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Die Wanderhure

Titel: Die Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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gerissen und ein Stück über das Kopfsteinpflaster geschleift. Einemitleidige Seele hob sie auf und gab ihr einen kleinen Schubs, der sie hinter den Reitern hertaumeln ließ. Ein dichtes Spalier von Menschen säumte den Weg, der sie am großen Spital und dem welschen Kaufhaus vorbei die Ufergasse hinabführte, die am Rheintor endete. Von dort aus würde es über die Brücke nach Petershausen weitergehen und dann ins freie Land hinaus.
    Marie fühlte sich wieder wie in einem Albtraum gefangen. Ihr Körper vibrierte mit jeder Faser, doch im Augenblick schien ein gütiger Engel ihr den Schmerz genommen zu haben. Vor ihren Augen tanzten vielfarbene Flecken, die die Gesichter der Menschen um sie herum gnädig vor ihr verbargen. Dafür tauchte manch anderes mit erbarmungsloser Klarheit vor ihr auf, wie der vergoldete Hahn, der über dem Chorfirst des Münsters thronte und ihr über die Dächer hinweg einen höhnischen Abschiedsgruß zuzurufen schien.

VIII.
    M atthis Schärer und Mombert Flühi hatten sich der Menge angeschlossen, die den Gerichtsdienern folgte. Maries Vater war in den Stunden seit Maries Verhaftung um Jahrzehnte gealtert, doch er schien mit einem Mal neue Kraft geschöpft zu haben, denn er drängte sich so rücksichtslos durch die Menge, dass sein Schwager ihm kaum folgen konnte. Sein Geist aber schien immer noch umnachtet zu sein, denn er brabbelte unverständliche Worte vor sich hin und streckte seine zitternden Hände immer wieder nach seiner Tochter aus, ohne sie jedoch anzufassen oder ihr zu helfen, wenn sie stolperte und zu Boden fiel. Auch Mombert konnte seine Augen kaum von seiner Nichte wenden, deren Blut den gelben Kittel rot färbte.
    Er dachte an Hedwig, seine eigene Tochter, die vor kurzem ihr zwölftes Lebensjahr vollendet hatte, und stellte sich vor, sie wärean Maries Stelle. Er hätte das Ganze nicht so widerstandslos hingenommen wie sein Schwager, und er war weniger denn je von Maries Schuld überzeugt.
    Gerade, als die Gerichtsdiener ihre Pferde durch das Tor lenkten, durch das man die Petershausener Vorstadt nach Westen verließ, nahm Marie Michel wahr, der sich durch die Menge drängte, um in ihre Nähe zu kommen. Einen Herzschlag lang sahen sie einander in die Augen. Sein Gesicht war von Entsetzen und Hilflosigkeit gezeichnet, doch sie las auch Mitleid darin und den Willen, ihr beizustehen. Als sie über einen vorstehenden Pflasterstein stolperte und hinschlug, wollte er ihr zur Hilfe eilen, doch im gleichen Moment tauchte Guntram Adler hinter ihm auf, packte ihn im Genick und zog ihn schimpfend in die Stadt zurück.
    Unter den spöttischen Kommentaren einiger Umstehender kam Marie ohne fremde Hilfe wieder auf die Füße und wankte weiter. Sie wusste jetzt, dass es einen Menschen gab, der an ihre Unschuld glaubte, und das gab ihr neue Kraft. Am Vorabend hatte sie seine Worte für das missgünstige Geschwätz eines eifersüchtigen Jungen gehalten, aber jetzt wurde ihr klar, dass sie ihm unrecht getan hatte. Michel liebte sie und hatte sie vor diesem Schicksal bewahren wollen. Dafür würde sie ihm wohl niemals danken können.
    Marie schüttelte das Gefühl der Trauer ab, denn es war besser für sie beide, wenn sie einander nicht mehr begegneten. Nach ihrer Verurteilung als Hure würde ein Mann wie der Adlerwirt sie nicht einmal als Schankmagd einstellen, geschweige denn in der Nähe seines Sohnes dulden.
    Sie war nun schutzlos, heimatlos und ohne Rechte, der Willkür eines jeden Menschen preisgegeben, dem sie begegnete. Die Einzigen, die ihr helfen konnten, waren ihr Vater und ihr Onkel Mombert. Sie hoffte, dass die beiden ihr folgen und sie an einen Ort bringen würden, wo sie sich vor der Welt verbergen und die Wunden ihres Körpers und ihrer Seele heilen lassen konnte. Andiesen Gedanken klammerte sie sich, während ihre Füße wie von selbst den Pferden der Gerichtsdiener folgten.
    Hinter Petershausen verloren auch die hartnäckigsten Gaffer das Interesse. Als die letzten zurückkehrten, blieben auch ihr Vater und ihr Onkel stehen. Marie sah, wie Mombert leise auf seinen Schwager einredete, als wolle er ihn trösten. Ihr Vater winkte jedoch heftig ab, drehte sich unvermittelt um und lief mit wankenden Schritten Richtung Stadt, ohne Marie noch einen letzten Blick zu schenken. Mombert breitete hilflos die Arme aus, sah abwechselnd hinter Marie und seinem Schwager her, als könne er sich nicht entscheiden, wen er im Auge behalten solle. Als er Matthis stolpern sah, eilte er ihm nach

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