Die Wanderhure
wurde die Bestrafung eines Delinquenten Tage vorher von Ausrufern bekannt gemacht und gab den Bürgern Gelegenheit, sich frühzeitig auf der Richtstätte oder hier auf dem Marktplatz einzufinden.
Die Zuschauer brauchten sich nicht lange zu gedulden, denn wenig später erschien ein weiterer Gerichtsdiener mit einem Bündel Ruten als Zeichen seiner Autorität und ersuchte die Umstehenden mit höflicher Stimme, dem ehrwürdigen Richter Honorius von Rottlingen und seinem Gefolge Platz zu machen. Schnell bildete sich in der anschwellenden Menschenmenge eine Gasse, die von der Plattform mit dem Schandpfahl bis zu dem Weg reichte, durch den die Mönche vom Inselkloster heraufkamen.
Erwartungsvolles Raunen begrüßte den Richter, seine Beisitzer und den Gerichtsschreiber. Den vier Mönchen folgte Magister Ruppertus mit seinen Zeugen. Die meiste Aufmerksamkeit aber lenkte Hunold auf sich, der Marie wie ein Kalb am Strick hinter sich herzog. Zwei anderen Männern, die ebenfalls noch zu dem Zug gehörten, aber um etliche Schritte zurückgefallen waren, schenkte kaum noch jemand Beachtung. Es waren Mombert Flühi und Maries Vater, der sich schwer auf seinen Schwager stützte und ununterbrochen den Kopf schüttelte.
Während der Richter und seine Begleiter auf den Bänken Platz nahmen, die die Gerichtsdiener für sie aufgestellt hatten, schleppte Hunold Marie zum Schandpfahl, einem eisenbeschlagenenBaumstamm, der so tief im Boden verankert worden war, dass er selbst dem Toben kräftiger Männer widerstehen konnte. Sein Holz war im Lauf der Zeit schwarz geworden von den Leibern der Verurteilen, die sich in ihrem Schmerz daran gewunden hatten, und so glatt wie polierter Stein. Hunold ließ den Anblick einen Augenblick auf Marie wirken, dann stieß er sie gegen den Pfahl und band ihre Hände hoch über ihrem Kopf fest, so dass nur noch ihre Zehen den Boden berührten. Mit einem Ruck riss er ihr den Kittel herunter und warf ihn beiseite.
Marie wurde starr vor Scham, als sie sich nackt den Blicken der Menge ausgesetzt sah.
Hunold schien immer noch nicht zufrieden zu sein, denn er legte sein Kinn auf ihre Schulter und sprach so leise, dass nur sie seine Worte verstand. »Ich mag es, wenn die Weiber schreien, wenn ich sie auspeitsche. Deswegen nehme ich dir jetzt den Knebel ab.«
Er löste das Band in Maries Nacken und riss ihr den Stab aus dem Mund. Dann zog er das Messer aus seinem Gürtel, schnitt ihre Zöpfe ab und steckte sie unter sein Hemd.
Marie drehte den Kopf zur Seite, so gut sie es mit den überstreckten Armen vermochte. »Gott verdamme dich in die tiefste Hölle.«
Hunold lachte nur und trat zurück, um dem Gerichtsschreiber Platz zu machen. Dieser stellte sich mit gewichtiger Miene neben dem Pfahl auf und verlas auf einen Wink des Richters das Urteil. Inzwischen hatte Mombert seinen halb bewusstlosen Schwager an einen Karren gelehnt und war bis in die erste Reihe der Zuschauer vorgedrungen. Was er dort suchte, wusste er nicht. Sah denn niemand, dass hier himmelschreiendes Unrecht geschah? Warum schritt keiner ein? Aber niemand hörte seine stummen Fragen, und das Wunder, auf das er hoffte, blieb aus.
Die Leute um ihn herum waren sich nicht einig, was sie von dem Ganzen halten sollten. Viele kannten Marie und versicherten einander, dass sie das Mädchen für eine tugendsame Jungfrau gehaltenhatten. Doch die meisten äußerten lautstark die Überzeugung, dass ihre Nachbarn auf eine verworfene Heuchlerin hereingefallen sein mussten, und ihre Stimmen klangen schadenfroh und selbstzufrieden.
Besonnenere Mitbürger fragten nach dem kaiserlichen Stadtvogt, der zusammen mit dem Rat der Stadt für die Verfolgung und Bestrafung von Verbrechen in Konstanz zuständig war. Andere belehrten sie, dass der Vogt die Stadt vor zwei Tagen verlassen hatte und nicht vor Anfang der nächsten Woche zurückkehren würde.
Die teilweise heftigen Wortwechsel verstummten, als ein Gerichtsdiener Hunold drei Haselnussruten reichte. Die Stäbe hatten einige Tage im Wasser gelegen, um elastischer zu werden. Hunold zog die Stirn kraus. Er hätte gern stärkere Äste verwendet. Honorius von Rottlingen achtete jedoch streng darauf, dass Frauen mit Ruten gestrichen wurden, die nicht dicker waren als sein Daumen, und zu Hunolds Ärger besaß der Richter recht zierliche Finger.
Der Büttel schnaubte verächtlich und schwor sich, dass Marie trotzdem jeden Hieb bis auf die Knochen spüren würde. Er nahm die kräftigste Rute und schlug ein paarmal
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