Die Wanderhure
Tag hier vertrödeln.« Er band sie wieder an seinen Steigbügel und ritt los, ohne darauf zu achten, ob sie dazu bereit war. Der Ruck riss Marie den letzten Rest Brot aus der Hand. Mit leisem Bedauern kämpfte sie sich auf die Füße und taumelte hinter ihren Bewachern her.
Als die Gerichtsdiener das nächste Mal anhielten, war in der Ferne bereits das Radolfzeller Münster zu erkennen. Einer der Männer sprang ab, band Maries Hände los und stieß sie ein Stück die Straße entlang.
»Dorthin musst du gehen. Lass es dir ja nicht einfallen, dich noch einmal blicken zu lassen, denn dann wird der ehrwürdige Herr Richter nicht mehr so gnädig mit dir verfahren.«
»Gnädig?« Marie verschluckte sich an ihrem Hass und rang nach Luft. Man hatte sie verleumdet, vergewaltigt, ausgepeitscht und aus ihrem Heim vertrieben, und diese Männer nannten das auch noch gnädig? Sie wollte ihnen die Wahrheit ins Gesicht schreien. Doch bevor ihr die Stimme wieder gehorchte, hatten die Gerichtsdiener ihre Pferde gewendet und ritten im schnellen Trab davon. Für Marie blieben nur die staubige Straße und die Sonne, die an diesem herrlichen Julitag sengend heiß vom Himmel brannte.
Nach wenigen Schritten erreichte sie eine uralte, vom Sturm zerzauste Eiche, die die Kreuzung beschattete, von der die Straßen nach Singen und Radolfzell abzweigten. Eine Weile stand Marie unschlüssig da und überlegte, wohin sie sich wenden sollte. Schließlich entschied sie sich für den Weg nach Singen, der im Schatten alter Bäume verlief.
IX.
N achdem Michel unter dem Vorwand des Bierlieferns bei Marie gewesen war, hatte er die ganze Nacht nicht schlafen können, weil er von bösen Vorahnungen gequält wurde. Um wieder zu sich selbst zu finden, verließ er noch vor Sonnenaufgang das Haus und besuchte die für die Dienstboten bestimmte Frühmesse. Dort traf er Elsa, die ihm mit verstörtem Gesicht zuflüsterte, dass Marie in der Nacht der Hurerei beschuldigt und verhaftet worden sei. Zuerst fühlte er sich wie vor den Kopf geschlagen und fragte sich, ob er Marie falsch eingeschätzt hatte. Nach kurzem Überlegen aber kam er zu dem Schluss, dass man sie verleumdet haben musste.
Also hatten sich seine unausgegorenen Befürchtungen, die ihn seit der Nachricht von Maries bevorstehender Heirat mit Magister Ruppertus Splendidus gequält hatten, sehr schnell bestätigt.Ihm war klar gewesen, dass diese Verlobung Marie ins Unglück stürzen würde, aber mit so einem schrecklichen Ende hatte er nicht gerechnet. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er ihr erzählt hätte, auf welche Weise ihr Bräutigam einen Prozess gegen eine angesehene Adelssippe geführt hatte, um seinem Vater deren Ländereien zu verschaffen, und mit welch üblen Mitteln er die Verlierer ins Elend gestoßen hatte. Wenn auch nur die Hälfte von dem, was er kürzlich erlauscht hatte, der Wahrheit entsprach, handelte es sich bei diesem Ruppert um einen Mann ohne Ehre, Anstand und Gefühle, der das Wort Barmherzigkeit nicht kannte.
Michel hielt den Bericht nicht für trunkenes Geschwätz, denn einer der beiden Männer, die sich in einer dunklen Ecke über den Fall unterhalten hatten, war ein Dienstmann jener Sippe gewesen und bei deren Vertreibung herrenlos geworden, so dass er sich schlecht beleumundeten Söldnern hatte anschließen müssen. Der Mann hatte kein Blatt vor den Mund genommen und von Betrug, Meineid und Urkundenfälschung gesprochen, Vergehen, auf die harte Strafen standen. Seine Anklagen waren so scharf gewesen, dass sein Gegenüber ihm geraten hatte, den Mund zu halten, wenn er weiterleben wollte. Da Michel auch schon andere Bemerkungen ähnlicher Art über Ruppertus Splendidus aufgeschnappt hatte, war er in höchster Sorge um Marie gewesen und machte sich nun Vorwürfe, sie nicht eindringlicher gewarnt zu haben.
Bis zum späten Vormittag war er jedoch der Ansicht, Maries Unschuld würde sich bald erweisen. Doch als er die Tische und Bänke vor dem Haus abwusch, rief ihm jemand zu, dass man Marie Schärerin der Hurerei überführt habe und gerade dabei war, sie an den Schandpfahl zu binden und auszupeitschen. Michel ließ seinen Lappen fallen und rannte hinter den Männern her. Da viele der Marktbesucher ihre Freunde und Nachbarn zusammengerufen hatten, drängten sich die Menschen schon dichtan dicht, um sich das Schauspiel nicht entgehen zu lassen. So musste sich Michel mit einem Platz am Rand der Marktstätte zufrieden geben. Von dort aus konnte er den Schandpfahl
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