Die Wanderhure
und stützte ihn.
Marie starrte ihnen fassungslos nach. Ihr Vater ließ sie im Stich! Das war das Letzte, das sie erwartet hatte. Ohne die Hilfe ihrer Verwandten, ohne eine Münze in der Tasche und einen Ort, an dem sie Zuflucht suchen konnte, würde sie die nächsten Tage wohl kaum überleben. Sie starrte die Rücken der beiden Reiter an und fragte sich, ob man sie wirklich irgendwo am Straßenrand aussetzen würde. Die beiden Männer drehten sich kein einziges Mal nach ihr um, sondern unterhielten sich gut gelaunt, als befänden sie sich auf einem gemütlichen Ausritt. Marie sagte sich, dass sie ihnen für die Missachtung dankbar sein musste, denn wenn Hunold den Auftrag bekommen hätte, sie wegzuschaffen, würde er sie auf jede nur mögliche Weise gequält haben, bis sie im Straßenschmutz zugrunde gegangen wäre.
Doch das war kein Trost für sie. Der Schock, dass ihre Verwandten sie allein gelassen hatten, öffnete die Schleusen des Schmerzes und des körperlichen Elends, die eine gnädige Hand eine Weile verschlossen gehalten hatte. Die Sonne stach unbarmherzig herab, und ihre Zunge klebte genauso am Gaumen wie der Kittel auf ihrer zerschundenen Haut. Scharfkantige Steine zerschnitten ihr die Füße, ihr Herz verkrampfte sich bei jedem Schlag, und die Welt um sie wurde grau, so dass sie kaum nochsehen konnte, wohin sie trat. Waren das die Vorboten des Todes?, fragte sie sich. Würde er sie endlich erlösen?
Eine Weile flehte sie stumm zu allen Heiligen, die ihr einfielen, sie mögen ein Wunder tun und ihr Hilfe schicken. Aber ebenso wie in der Nacht verhallten ihre Bitten ohne ein Echo, und die Schmerzen fraßen sich mit jedem Schritt tiefer in ihre Seele und trieben die Hoffnung und den Glauben aus ihr heraus. Sie fühlte, wie ihr Geist aus den Fugen ging, und hoffte, ihr Herz würde bald für immer verstummen.
Marie konnte nicht wissen, dass die Gerichtsdiener ein Interesse daran hatten, sie zu schonen, und deswegen ihre Tiere sehr langsam gehen ließen. Wenn die Frau hinter ihnen in ihrer Obhut starb, durften sie sie nicht einfach liegen lassen. Es gehörte zu ihren Pflichten, die Leiche eines Delinquenten zum nächsten Armenfriedhof zu bringen und sie mit eigener Hand dort zu begraben oder sie irgendwo tief im Wald zu verscharren und das Grab mit Steinen zu bedecken, damit es nicht von wilden Tieren ausgegraben werden konnte. Dieser Mühe unterzogen sie sich nur ungern, und es trieb sie ja auch niemand an. So freuten sie sich auf den Wein, der in Wollmatingen ausgeschenkt wurde, und waren froh, als sie die dortige Tafernwirtschaft erreichten.
Sie banden Marie bei den Pferden an und flößten ihr Wasser aus dem gleichen Eimer ein, mit dem sie vorher ihre Tiere getränkt hatten. Dann machten sie es sich in der Gaststube bei Wein und einem ausgiebigen Mahl bequem, bis die Sonne langsam nach Westen sank. Als sie aufbrachen, war es später Nachmittag, und es wurde langsam kühler.
Marie war jung und kräftig, und so hatte die lange Rast ihrem Körper Erholung verschafft. Ihr Herz klopfte ruhiger, und die grauen Schleier vor ihren Augen waren verweht, so dass sie ihre Umgebung wieder wahrnahm. Sie wusste nicht, ob sie froh sein sollte oder enttäuscht, weil Gevatter Tod sie schon wieder verschmäht hatte. Wie ein Schaf, das zum Markt geführt wird, trottetesie mit hängendem Kopf hinter ihren Bewachern her, während ihre Seele in einem Meer aus Hoffnungslosigkeit trieb.
Die Nacht verbrachten die Gerichtsdiener auf den bequemen Strohsäcken einer Herberge in Allensbach, während Marie mit der kalten Erde eines Schuppens vorlieb nehmen musste. Sie erhielt auch diesmal nur Wasser aus dem Pferdetrog und bekam nichts zu essen. Erst am nächsten Morgen ließ einer der Gerichtsdiener sich vom Wirt einen Becher billigsten Wein und ein Stück Brot geben und drückte Marie beides in die gefesselten Hände.
»Iss und trink«, forderte er sie auf. »Du hast noch ein hartes Stück Weg vor dir. Aber heute Nachmittag bist du uns los und kannst gehen, wohin du willst, sofern du nicht Richtung Konstanz läufst.«
Marie umklammerte den Becher mit beiden Händen und trank so hastig, dass sie einen Teil verschüttete. Die Flüssigkeit rann wie Säure durch ihre Kehle und brannte in ihrem Magen. Trotzdem trank sie alles aus. Sie wollte den Mann um einen zweiten Becher bitten. Doch er wandte sich mit einem Gesicht von ihr ab, als bedaure er sein Mitleid.
»Mach, dass du auf die Beine kommst, Hure. Wir wollen nicht den ganzen
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