Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
Unentschlossen lehnte sie sich an die schwarz-graue Mauer. Dann siegte das Pflichtbewusstsein. Sie wandte sich in Richtung Küche. Auf dem Hof hörte man das Wiehern eines Pferdes im Stall. Die Zofe spähte durch eines der schmalen Fenster. Man hatte es wieder mit Brettern verschlossen, um die Kälte draußen zu halten, so blieb dem Mädchen nur eine kleine Ritze zum Spähen. Wieder und wieder wieherte das Pferd. Dann kam es in ihr Blickfeld: Ein gewaltiger Rappe, mindestens so stark wie Wirthos letzter Hengst, aber noch bösartiger. Vier Männer versuchten, ihn zu halten, doch es schlug mit den Hinterbeinen, stieg in die Höhe, wirbelte den Kopf in die Luft und gebärdete sich, als hätte es wahrhaftig den Teufel im Leib. Das musste das Tier sein, von dem ihr Matthias gesprochen hatte. Annelies bekreuzigte sich. Wahrlich, Herr Wirtho wünschte, dass ihr Mann sich den Hals brechen sollte. Niemand würde diesen Gaul je bändigen können. Er würde jeden direkt in die Hölle katapultieren.
*
Beinahe wäre Arigund mit Pater Anselm zusammengestoßen. Der Priester trat einen Schritt zurück. »Frau Arigund«, begrüßte er sie förmlich. »Es freut mich, Euch wohlauf zu sehen.«
Arigund fand es immer noch merkwürdig, dass der Pater sie seit ihrer Hochzeit nicht mehr mit »mein Kind« ansprach. Sie senkte den Kopf und erwiderte: »Auch Euch ein herzliches grüß Gott, Pater Anselm. Ich sehe Euch in vollem Ornat. Ist etwas mit dem Truchsess?«
»Er wünscht, dass ich ihm die Beichte abnehme«, erklärte der Priester und ging langsam weiter. »Für den Fall, dass er seinem Schöpfer gegenübertreten muss.« Arigund blieb an seiner Seite.
»Geht es ihm so schlecht?«
»Er hat starke Schmerzen und Fieber, doch noch sollten wir nichts verloren geben. Die Wege des Herrn sind unergründlich.«
Für einen Moment schloss Arigund die Augen. Also doch. Nicht auszudenken, wenn der Truchsess sein Leben aushauchen würde. Bis zu Reimars Rückkehr wären sie alle Wirthos Willkür ausgeliefert. Nicht einmal seine Mutter würde vor ihm sicher sein. Allein der Gedanke daran ließ sie beben.
»Ihr solltet in Eure Kammer zurückgehen, Frau Arigund«, riet der Priester. »Man wird Euch beizeiten rufen.«
»Nur auf ein Wort, Pater Anselm«, beharrte sie.
»Der Truchsess würde nicht wollen, dass Ihr Euch aufregt. Ihr müsst an Euer Kind denken und Euch schonen.«
»Weiß Herr Wirtho schon Bescheid?«
»Ich nehme es an.«
Der Kaplan öffnete die Tür zur Kammer des Truchsess und ließ Arigund einfach stehen. Die schlug die Hände vors Gesicht. Das durfte nicht sein. Reimar von Brennberg konnte sie doch nicht einfach im Stich lassen. Die Tür öffnete sich erneut. Heraus humpelte Resl. Sie stützte sich schwer auf ihren Stab, nickte Arigund kurz zu, wollte sich dann rasch an ihr vorbeischieben.
»Resl, warte doch einen Augenblick«, hielt die junge Frau sie auf. »Was ist mit dem Truchsess?«
Die Alte blieb stehen und blickte aus verquollenen Augen zu ihr hoch. »Wisst’s do selber gnua.«
Dann humpelte sie weiter. Warum nur war die Resl so kurz angebunden? Arigund hastete hinter ihr her.
»Was is nachat no?«, herrschte die Alte in selten ungehaltenem Ton.
»Nun red doch, Resl«, drängte Arigund. »Warum bist du so aufgebracht? Hat dich der Pater dumm angeredet?«
»Der mocht sei Gschäft und i meins.«
»Und deshalb frag ich dich noch einmal: Wie geht es dem Truchsess. Du musst es doch wissen.«
»Der Gevatter streckt die Hand nach ihm aus, aber no hat ern net. Und etza, Herrin, lassts mi geh’n. Da sann no andere, die mi brauchen.«
»Bitte Resl, du weißt doch so viel, sag einmal, hat es eine Bedeutung, wenn man glaubt, die Eule rufe einen?«
Erschrocken sah die Alte Arigund an und schlug das Kreuzzeichen. Dann flüsterte sie: »Der Himmel steh uns bei! Hat der Truchsess die Eule gehört? Dann isses aus mit erm. Dreimal ruft die Eule, dann kimmt da Sensenmann.«
Hastig drängte sich die Kräuterfrau an der jungen Frau vorbei. Für einen Moment hatte Arigunds Herz zu schlagen aufgehört und suchte nun mühsam seinen Rhythmus. Die Reaktion der alten Kräuterfrau hatte sie mehr mitgenommen als diese vermaledeite Eule selbst. Was, wenn der alte Truchsess tatsächlich sein Leben aushauchte? Ein furchtbarer Gedanke. Arigund schlug die Hände vor das Gesicht und stieß einen tiefen Schluchzer aus. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und rannte in die Schreibstube. Sie musste etwas tun, um nicht verrückt zu
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