Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
werden. Sie gab Bescheid, wo man sie finden konnte, und vergrub sich in die Bücher. Dort blieb sie den ganzen Tag, weshalb ihr die Ankunft eines neuen Gastes, des Minneritters Josephus von Augsburg, entging. Spät in der Nacht hörte sie allerdings noch das Getrappel von Pferden, die eilig die Burg verließen.
*
Als Luise beim Nachtmahl noch immer verschwunden war, begann das Gesinde Suchtrupps zusammenzustellen. Der Stallmeister rief Freiwillige. Er schickte Männer in jeden noch so entlegenen Winkel der Burg. Er ließ sogar Lukas in den Brunnen herunter, um zu prüfen, ob die Magd etwa in den Münchstein gefallen war. Doch außer Fröschen und Kröten entdeckte der Junge im Wasser nichts. Frau Kunigund ließ dem Stallmeister freie Hand, da sie nicht von der Seite ihres Mannes wich. Auch Wirtho pirschte vor der Kammer seines Vaters aufgebracht hin und her. Er winkte bloß ab, als der Stallmeister von der verschwundenen Magd berichtete. Annelies durchstöberte gemeinsam mit zwei anderen Frauen die Vorratskammer. Obwohl er noch stärker humpelte als am Vorabend, half Matthias den Heuschober zu durchkämmen. Luise blieb verschwunden. Verzweifelt kehrte Annelies in den Palas zurück, gerade rechtzeitig, um Arigund beim Ausziehen zu helfen.
»Was ist denn da für ein Tumult auf dem Hof?«, schimpfte die Herrin. »Man könnte meinen, es herrsche Jahrmarkt, während unser Herr Reimar leidend darniederliegt.«
Da konnte Annelies nicht mehr an sich halten. Die Tränen liefen ihr herunter, und sie schluchzte: »Sie suchen Luise.«
»Deine Freundin?«, fragte Arigund teilnahmsvoll. »Wie kann das sein. War sie nicht gestern noch …?« Plötzlich unterbrach sie sich. Sie erinnerte sich an das Gespräch mit Wirtho und an sein eigenartiges Interesse an dem Mädchen. Aber …, sie war doch gar nicht da gewesen.
»Merkwürdig«, murmelte Arigund.
»Was ist?«, fragte Annelies voller Hoffnung. »Wisst Ihr etwas? So sprecht doch, ich bitte euch recht schön.«
»Nun, ihre Abwesenheit fiel gestern beim Abendessen bereits Wirtho auf.«
»Beim Abendessen schon …«, wiederholte die Zofe mit Verzweiflung in der Stimme.
»Der Koch meinte auch, sie wäre schon nicht mehr da gewesen, als abgeräumt wurde, aber was hätte der Herr Wirtho von ihr gewollt?«
»Nun, er erkundigte sich lediglich nach ihr. Weißt du, ob er, nun, ob er mit ihr …«
»Ich weiß schon, was Ihr meint, Herrin. Mir hat sie nichts davon erzählt. Sie war keine von den Mägden, die sich vor dem jungen Herrn in Acht nehmen mussten. Herr Wirtho, verzeiht die offenen Worte, er mag eher die hellhäutigen, blonden Frauen. Luise besitzt dunkle Haare. Sie sieht Euch recht ähnlich. Allerdings gab es da einen anderen Ritter, der ein Auge auf Luise geworfen hatte, den Herrn Sigurd.«
»Meinst du den Freund von Wirtho?«
»Genau. Sie sitzen oft in der Waffenkammer zusammen, die Herren Wirtho, Sigurd und Waldemar. Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass sie etwas mit der Sache zu tun haben. Also, es wäre nicht ihre Art, meine ich.«
Diesmal verstand Arigund nur zu gut. Ritter machten nicht viel Federlesen um eine Magd. Wenn sie eine Unfreie wollten, hielten sie sich nicht lange mit Minnesang auf. Sie warteten auf eine günstige Gelegenheit, nahmen sich ihr Recht und gingen wieder. Warum also sollte sich Sigurd die Mühe machen, das Mädchen verschwinden zu lassen? Es sei denn, es wäre dabei ein Unglück geschehen. Diesen Verdacht behielt Arigund jedoch lieber für sich. In jedem Fall würde sich Arigund den Ritter einmal vorknöpfen. Zunächst aber eilte sie noch einmal zur Kammer des Truchsess und diesmal wollte sie sich nicht abwimmeln lassen.
Der Zustand des Burgherren war unverändert, nur dass er noch hohlwangiger und blasser wirkte als am Vorabend. Schwer atmend lag er auf seinem Lager. Die Luft im Zimmer war stickig. Pater Anselm murmelte Psalmen, während er ein rauchendes Gefäß schwenkte, in dem in Ermangelung von Weihrauch offensichtlich Wermut qualmte. Der Priester runzelte die Stirn, als er Arigund eintreten sah, wagte aber nicht mehr, sie wegzuschicken, nachdem Frau Kunigund ihre Schwiegertochter mit einer Umarmung empfangen hatte.
»Wir müssen beten, mein Kind«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.
»Steht es so schlimm?«, fragte Arigund so leise wie möglich.
»Der Medicus, der heute mit dem Herrn Josephus von Augsburg ankam, glaubt, der Truchsess würde die Nacht nicht überleben. Die unguten Säfte haben sich im ganzen Körper
Weitere Kostenlose Bücher