Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
ging ruhig und gleichmäßig. Berta murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Das gleichmäßige Klopfen des Regens hatte aufgehört. Es war stockfinster, umso lauter war ein deutliches Knacken und Zerbersten von Ästen zu hören.
»Ein Bär!«, kam es Arigund in den Sinn. »Hoffentlich greift er nicht unsere Pferde an.« Aber wagte sich so ein wildes Tier tatsächlich derart dicht an Menschen heran? Was wenn es es tat? Würde dann auch Reimar sich der Bestie entgegenstellen und sein Leben wagen müssen? Herr Ittlinger, einer der älteren Agenten ihres Vaters hatte weiter im Osten einem Meister Petz Auge in Auge gegenübergestanden und ihn in den schillerndsten Farben geschildert. Er meinte, ein solches Tier würde – aufgerichtet – einen stattlichen Mann überragen und selbst einen Ritter mit einem einzigen Prankenhieb töten. Ein kalter Schauer lief Arigund über den Rücken. Dann schimpfte sie sich selbst: Was war sie nur für ein Hasenfuß. Bestimmt war da gar nichts, und sie ließ sich nur von ihren Sinnen täuschen. Leise begann sie ein Lied zu summen. Die unheimlichen Tritte entfernten sich, und Arigunds Herz schlug langsamer. Nach einer Weile nickte sie wieder ein.
Es war ein anderes Geräusch, das sie einige Zeit später erneut weckte: ein Rasseln oder leises Scheppern, gefolgt von einem traurigen Ruf, der dem noch schlaftrunkenen Mädchen in den Ohren klang wie ein geheimnisvolles »Komm mit!«. Ob sie jemand mitten in der Nacht aus dem Zelt bat? Gar eines der Mädchen? Arigund sah sich um. Die Schläferinnen lagen vollzählig in ihren Betten. Doch die Kaufmannstochter war sich sicher, ein Rufen gehört zu haben. Es würde ihr keine Ruhe lassen, bis sie der Sache auf den Grund gegangen war. Leise, um die anderen nicht zu wecken, richtete Arigund sich auf und tastete nach ihrem Mantel, den sie schließlich über den Schuhen fand. Sie zog alles an, schlang das Wolltuch fest um sich und schlüpfte hinaus in die Dunkelheit. Der Wind hatte sich gelegt. Dampfiger Nebel hatte das Feuer erstickt, das die Knechte mühsam entfacht hatten. Außer Arigund schien niemand auf den Beinen zu sein. Schwer atmend verharrte das Mädchen neben dem Zelt und lauschte in die Finsternis. Eine Art Schluchzen ließ sie aufhorchen und ein geisterhaftes Rasseln. Es musste ganz aus der Nähe kommen, doch es war nichts zu sehen. Langsam bewegte sich Arigund auf das Geräusch zu und bemühte sich, in dem milchigen Dunkel etwas zu erkennen. Wie aus dem Nichts tauchte ein riesiger Baum vor ihr auf, eine Eiche mit hoher Krone und rissiger Rinde. Wasser troff von den Blättern herab, genau auf Arigunds Stirn. Erneut vernahm das Mädchen den schaurigen Ruf. Er kam eindeutig von oben. Irgendetwas saß in den armdicken Ästen. Arigund sah hoch. Ein fetter Regentropfen platschte ihr direkt zwischen die Augen. Sie wischte ihn mit der Hand weg. Als sie wieder sehen konnte, hockte keine fünf Ellen entfernt eine große Eule direkt vor ihr in einer Astgabel. Ihre Krallen waren so dick wie die Finger eines Kindes und scharf wie das Schwert eines Ritters. Gelassen wendete das Tier den Kopf, was merkwürdig aussah, weil die Füße jetzt in die entgegengesetzte Richtung zeigten. Es zwinkerte Arigund mit seinen klugen Augen vertraulich zu. Das Mädchen musterte das Tier. Natürlich gab es in Regensburg Käuze, die den Sommer unter den Dachgiebeln verbrachten und dort ihre hungrige Brut umsorgten, doch noch nie hatte die Kaufmannstochter ein so stattliches Tier gesehen. Sein ernstes Gesicht war von einem grauen Bart umsäumt, in der Art, wie ihn alte Männer trugen. Die Eule schien keineswegs beunruhigt über ihren nächtlichen Besuch. Sie plusterte sich auf und schüttelte das Gefieder, was jenes rasselnde Geräusch verursachte, das Arigund geweckt haben musste. Von wegen Waldschratzen! Arigund wollte gerade aufatmen, als das Tier den Schnabel öffnete und erneut jenen klagenden Ruf von sich gab, der wie ein »Komm mit!« klang und dem Mädchen eine Gänsehaut über den Rücken jagte. So etwas hatte es noch nie gehört. Die Eulen in Regensburg flöteten ein lang gezogenes »Schuhu«. Der Vogel bewegte seinen Kopf zu einem ruckartigen Nicken. Dann breitete er seine Schwingen aus und stieß geräuschlos genau auf Arigund herab, drehte aber im letzten Augenblick noch bei und verschwand in der Dunkelheit, ohne sie auch nur berührt zu haben.
Arigund schlug die Hände vor das Gesicht und stieß einen gellenden Schrei aus. Voller Panik rannte sie
Weitere Kostenlose Bücher