Die Wanifen
stand auf. Mein verletztes Bein schmerzte immer noch, aber ich konnte es belasten, wenn ich vorsichtig auftrat.
Aus irgendeinem unbewussten Instinkt heraus hatte ich wohl meinen Eibenbogen umgehängt, bevor ich mich auf die Suche nach Gorman gemacht hatte. Das war gut. So hatte ich die Chance, länger im Wald zu überleben, wenn es nötig sein sollte.
Aber was jetzt?
Ich musste Gorman finden …
Aber wie? Ich hatte nicht einmal gesehen, wohin er verschwunden war. Er könnte überall sein.
Was hatte er gesagt, als er mich aus seinen veränderten Augen angestarrt hatte, Augen die nicht mehr menschlich waren, sondern denen einer Eule ähnelten?
»Ich werde dich jagen, hetzen … Erwarte mich in der Dunkelheit, meine Kleine!«
Gorman wollte zurückkommen, um mich zu töten … aber zuerst war er verschwunden, um die Urukus zu jagen. Ich hatte das Verlangen in seinem Blick gesehen, das Vibrieren in seiner Stimme gespürt. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er mich an Ort und Stelle umgebracht. Ich war hilflos gewesen, unfähig, ihm zu entkommen, nur deshalb war er zuerst den Urukus nachgejagt, in dem Wissen, dass er mich immer und überall finden konnte …
Ich runzelte die Stirn. Warum war er dann nicht zurückgekommen? Warum hatte er das Elchenband nicht genutzt, um mich zu finden?
Ich berührte mein Elchenband mit den Fingerkuppen.
»Wo bist du?«, flüsterte ich.
Frühling, drei Sommer vor dem Blutmond
Ainwa hatte sich mit den anderen jungen Ata um das Lagerfeuer versammelt und lauschte Alfangers Geschichten. Aus dem nahen Wald tönte der Ruf eines Käuzchens und die Grillen zirpten.
Weyref und Andra wirkten gelangweilt. Sie feilten an Speerspitzen, während Alfanger erzählte. Ainwa wusste, wie wenig sie die Geschichten des Heilers interessierten. Seit Galsinger sie zum ersten Mal mit auf die Jagd genommen hatte, sprachen sie kaum noch von etwas anderem … genau wie Gorman.
»Dies ist die Geschichte des Elchenbands, die jeder von euch erfahren muss, nun, da ihr alt genug für die Jagd seid«, erklärte Alfanger mit einer weit ausladenden Handbewegung.
Ainwa blickte zur Seite. Gorman hatte seinen Oberkörper leicht vorgebeugt und schien jedes von Alfangers Worten aufzusaugen.
»Als unser Volk jung war, kurz , nachdem wir uns an den Ufern des Ata niedergelassen hatten, gab es Menschen, die uns aus dem Seenland vertreiben wollten, den Stamm der Tráuna.
Die Tráuna lebten an einem See auf der anderen Seite der Höllberge, der beinahe genauso groß ist wie der Ata.
Die Berge dort sind höher und fallen steiler ins Wasser ab als hier und seine Wasser sind dunkler. Die Tráuna waren viele und sie neideten uns das weite Gebiet am Nordufer, wo das Wild mehr Platz zum Grasen fand. Dieses Land war unser Zuhause und wir stellten uns dem Kampf, als sie kamen.« Alfanger holte tief Luft.
»Viele starben, aber keiner gewann. So ging es jahrelang, bis eines Tages die beiden stärksten Jäger der Ata, ein Mann und eine Frau, die gemeinsam viele Gefahren durchgestanden hatten, in die Berge zogen, um den Rat der Geister zu suchen … Die Geister schenkten ihnen einen Zauber, der ihr Herz und ihre Seele verschmelzen ließ. Das Elchenband.«
Ainwa musterte Gorman, während Alfanger genau beschrieb, wie man das Elchenband schloss und die beiden mit ihrer vereinten Kraft die Tráuna in die Flucht schlugen. Seine Wangen glühten.
»Ihr Geist, ihr Blut … alles war miteinander verbunden. Es ist der stärkste Zauber, den zwei Menschen wirken können. Viele Sommer später, als der Jäger starb, folgte ihm auch die Jägerin in den Tod, weil sie ohne ihn nicht mehr leben konnte.«
Nachdem Alfangers Geschichte geendet hatte, kehrten die jungen Ata einer nach dem anderen in ihre Pfahlhütten zurück.
»Kommst du?«, fragte Gorman, der bereits auf dem Steg stand, der zu Galsingers Hütte führte.
»Gleich«, antwortete sie und lächelte. »Geh ruhig.«
An Gormans Miene erkannte sie, dass er sie nicht gern mit Alfanger allein ließ.
»Wir werden einmal große Jäger sein, Ainwa, so wie die in Alfangers Geschichte. Verschwende deine Zeit nicht mit … Heilpflanzen. Du beherrschst keine einzige Waffe. Der Wisent wird dich auf die Hörner nehmen, wenn du nicht übst.«
»Ich weiß«, murmelte Ainwa. »Ich werde morgen mit dir üben, versprochen!«
Gorman musterte sie kurz und verschwand in der Dunkelheit.
»Warum bist du noch hier, Ainwa?«, fragte Alfanger, der gerade das Feuer löschte. »Galsinger
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