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Die Wanifen

Die Wanifen

Titel: Die Wanifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Anour
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geradewegs einem meiner Albträume entsprungen. Ein schwarzer Schatten, nie deutlich zu erkennen, mit glühend roten Augen.
    Er zerriss die Elche vor unseren Augen. Ich weiß noch, wie ich geschrien habe, aber Elfgreth hat meine Hand genommen und mir gesagt, ich solle ruhig bleiben. Manchmal, wenn ich mich zurückerinnere, glaube ich fast, sie wusste, was passieren würde. Der Kelpi tötete uns nicht gleich … Wir kauerten vor ihm auf dem Boden und hielten uns gegenseitig in den Armen wie zwei verängstigte Kinder …«
    Rainelfs Miene versteinerte.
    »Ich erinnere mich an seine eiskalte Stimme. ,Dient mir oder sterbt‘. Während meines ganzen Lebens war ich der Mutigere von uns beiden gewesen, aber jetzt lähmte die Angst meine Zunge. Meine liebe Elfgreth erhob die Stimme. Sie, die fast nie ein Wort sprach. Wir beugen uns dir nicht, Geist der Finsternis. Sie sah mich an und lächelte. Wir gehen mit reinem Herzen in die andere Welt. «
    Rainelf starrte ins Leere. Ich konnte keine Tränen in seinen Augen erkennen, kein Glitzern, nichts …
    »Ich hielt sie fest«, flüsterte er. »Aber was war meine Liebe schon gegen seine Macht? Der Kelpi riss sie mir aus den Armen. Sie schrie nach mir. Der Kelpi biss ihr die Kehle durch und trank das Blut, das daraus hervorströmte. Elfgreth wurde immer weißer, bis der Kelpi ihre leblose Hülle auf den Boden schleuderte. Ich weiß noch, wie ich geschrien habe, wie ich weinte. Diene mir oder stirb! Ich hatte solche Angst, Ainwa. Ich war allein und starrte in die bleiche Miene meiner toten Schwester. Ich hätte dort sterben sollen, aufrecht und tapfer wie Elfgreth, aber dazu war ich nicht stark genug. Ich flehte den Kelpi an, mich zu verschonen, zum Ausgleich würde ich ihm …«
    Rainelfs Stimme versagte für einen Moment. Er schüttelte den Kopf.
    »Hätte ich damals gewusst, was es bedeutet, ich hätte den Tod umarmt.«
    Er starrte mich aus traurigen Augen an.
    »Mit seiner Klaue«, flüsterte er und hob seinen Zeigefinger, »zeichnete er ein Mal aus Blut auf meine Stirn. Das Zeichen bedeutete, dass ich fortan ihm gehörte. Dann verschleppte er mich in die Geisterwelt. Er hielt mich so, wie die Wanifen normalerweise ihre Geister halten. Das Zeichen, das er mir auf die Stirn gemalt hatte, zwang mich, jedem seiner Befehle zu gehorchen. Er sperrte mich in die dunkle Höhle, die sein Unterschlupf war. Monatelang sah ich kein Tageslicht.
    In dieser ersten Zeit wusste ich nicht, dass ich in eine andere Welt gewandelt war. Ich war überzeugt davon, meine Leute würden nach mir suchen. Irgendjemand würde ganz bestimmt kommen und mich aus diesem Albtraum befreien. Ich schrie. Ich klopfte. Tagelang … Wochenlang …«
    Rainelf hob den Blick und seufzte.
    »Aber niemand kam und mit jedem Tag schwand meine Hoffnung und wuchs meine Verzweiflung. Der Kelpi ließ mich darben. Ich wusste nicht, ob er jemals wiederkommen würde, ob ich für immer in diesem finsteren Loch bleiben musste …«
    Ich sah ihn betroffen an.
    »Wie hast du überlebt?«
    Rainelf seufzte erneut. »Normalerweise wäre ich in den ersten Wochen verhungert, aber mit der Zeit begriff ich es …«
    »Was hast du begriffen?«
    Rainelf lächelte wehmütig. »Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen, Ainwa?«
    Ich überlegte. Ich hatte mir ein paar Streifen Trockenfleisch in den Mund gestopft, bevor ich das Wanifenhaus verlassen hatte …
    »Vor zwei Tagen«, entgegnete ich.
    »Und? Hungrig?«
    Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Rainelf hatte recht. Nach dieser Zeit sollte ich eigentlich hungrig sein.
    »Menschliche Bedürfnisse verlieren ihre Wirkung in der Geisterwelt. Hunger, Durst, Schlaf, das Bedürfnis nach Wärme … Das alles existiert hier nicht. Kannst du dir vorstellen, wie es war, dort in der Dunkelheit gefangen zu sein, ohne Hoffnung auf Rettung, als ich herausfand, dass nicht einmal der Tod mich aus meinem Gefängnis erlösen würde?«
    Ich stockte. Kein Wort kam mir über die Lippen.
    »Ich hätte sehr bald den Verstand verloren, wenn sie nicht gewesen wäre. Ich war jetzt ein Wanife und mein Hermelinenwór fand mich in der Dunkelheit. Sie war für mich da, sie tröstete mich wie eine Mutter und erzählte mir, wer sie war und was ich war … Nach drei Monaten kehrte der Kelpi zurück und holte mich aus meinem Gefängnis. Er befahl mir, in die Menschenwelt zu wandeln und nach jungen Wanifen Ausschau zu halten. Als er begriff, dass ich dazu ohne einen Stab nicht fähig war, ließ er zu, dass ich mir

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