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Die Wanifen

Die Wanifen

Titel: Die Wanifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Anour
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Schrei …
    Ich hatte es beinahe vergessen. Das Duell war gewonnen. Jewas war tot und damit ging sein Seelengeist auf mich über. Unter dem Geistzeichen des Perchts war ein weiteres aufgetaucht, ein schreiendes Gesicht. Ich versuchte angeekelt, es mit meiner Handfläche abzureiben, obwohl ich eigentlich wusste, wie sinnlos das war. Der Alb gehörte jetzt zu mir.
    Was hatte mir Kauket beigebracht? Kein Geist war gut oder böse. Jeder von ihnen verkörperte eine Naturkraft. Es war Jewas gewesen, der den Alb diese furchtbaren Dinge hatte tun lassen. Vielleicht würde ich eines Tages lernen, wie man diese Kräfte für etwas Sinnvolles einsetzen konnte.
    Ich hob den Kopf und blickte zum Waldrand empor, dorthin, wo ich eben Gormans Schrei gehört hatte. Ich hatte einen gefährlichen Wanifen besiegt, war sogar gestorben und trotzdem würde ich das alles mit Freuden noch mal durchleben, wenn ich dafür nicht da hinaufmüsste. Aber er war der Grund, warum ich an den Dreibach gekommen war. Um Kauket zu retten und Gorman gegenüberzutreten.
    Ich lief zum Wechselstein hinüber und hob meinen Eibenbogen und den Pfeilköcher auf. Den Mantel ließ ich, wo er war. Ich versuchte, das heftige Kribbeln meines Elchenbands zu ignorieren. Ich wusste auch so, dass Gorman in der Nähe war. Und jetzt, wo es Nacht wurde, gewann er an Kraft.
    »Folge mir«, flüsterte ich Ata zu, als ich an ihm vorbeilief. »Lass mich jetzt nicht allein.«

Kapitel 19
    See
     
     
     
    D ie alten Bäume bogen sich zur Seite, als ich vorbeilief, verbeugten sich ehrfürchtig vor Ata, der mir nicht von der Seite wich, obwohl ich ihn nicht sehen konnte. Ich fühlte mich auf schmerzvolle Weise an das letzte Mal erinnert, als ich hier gewesen war. An den Tag des Blutmonds.
    Ich sah den erstarrten See zwischen den schneebeladenen Ästen der Tannen hindurchschimmern und blieb stehen. Ich stand neben dem Wechselstein, auf dem ich kauerte, nachdem ich das Band mit Ata zerrissen hatte.
    Ein Schneehase stellte sich auf seine Hinterläufe und beäugte mich mit aufgerichteten Lauschern, dann verschwand er lautlos wie ein Geist zwischen den Bäumen. Ich machte ein paar vorsichtige Schritte auf den Kraftplatz hinaus.
    »Hallo, meine Kleine«, sagte eine vertraute Stimme.
    Ich schloss die Augen.
    »Lange her, seit wir das letzte Mal gemeinsam hier waren«, sagte Gorman.
    Ich konnte ihn immer noch nicht sehen. Ich wusste auch nicht, ob ich die Kraft haben würde, ihm ins Gesicht zu blicken.
    »Erinnerst du dich?«, fragte er.
    »Ja«, flüsterte ich. »Ich erinnere mich.«
    Ein Schatten löste sich vom Stamm einer riesenhaften Tanne. Ich glaubte, es war sogar dieselbe wie damals …
    Dämmerlicht fiel auf seine Gestalt und ich sah ihn genauer. Mein Gorman. Dasselbe Gesicht wie damals, aber der bohrende Blick dieser orangefarbenen Eulenaugen … Es fühlte sich so an, als würden sie mich in einen dunklen Abgrund saugen. Vielleicht ein Teil der Kelpimagie, die auf ihn übergegangen war.
    »Ich denke an nichts anderes. Tag und Nacht, Ainwa«, meinte er mit bebender Stimme und machte einen Schritt auf mich zu. »Den Tag, an dem ich dich das letzte Mal sah.«
    Mit großer Mühe löste ich meinen Blick von seinen Augen. Er trug nach wie vor kein Hemd, nur das dunkle Bärenfell über seinem Rücken.
    »Ich wünsche mir oft, ich könnte zu diesem Tag zurückkehren«, sagte ich. »Wie ein Fluss, der zurück zur Quelle fließt. Ich würde alles ändern. Für uns …«
     
    Der Tag des Blutmonds
     
    Ainwa erwachte und blickte sich verwirrt um. Sie musste wohl eingeschlafen sein, irgendwann, nachdem sie den unsichtbaren Geist verjagt hatte. Sie wünschte sich beinahe, sie wäre nicht aufgewacht. Jeder Traum war im Augenblick besser als die Wirklichkeit.
    Langsam rappelte sie sich auf und streckte sich. Sie hatte sich im Schlaf auf diesen runden Stein gelehnt und jetzt fühlten sich ihre Glieder unangenehm steif an.
    Es war ein warmer Sommermorgen. Ainwa hörte das Schmettern eines Buchfinks über ihr im Geäst. Das war’s. Wo sollte sie jetzt hingehen? Zurück nach Ataheim? Gorman würde sie heute verbannen … Sie musste sich diese Schmach nicht antun. Sie könnte gleich gehen. Nein. Nein. Diesen Gefallen würde sie Gorman nicht tun. Er sollte ihr in die Augen blicken, wenn er es tat.
    »Hallo, meine Kleine«, sagte eine wohlvertraute Stimme.
    Ainwa wandte sich langsam um. Eine Gestalt schälte sich aus dem Schatten einer alten Tanne.
    »Ich wusste, ich würde dich hier finden«,

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