Die Wanifen
mich doch eine einmalige Gelegenheit, das Wanifenhaus für eine Weile zu verlassen. Niemand würde mich sehen, es wäre völlig sicher.«
»Es ist keine besonders gute Idee, die Höhle zu durchqueren, solange du in der Geisterwelt bist«, sagte er. »Sie wird von einem Tatzelwurm bewohnt und einen Tatzelwurm in seinem Revier zu stören, kann sehr, sehr gefährlich werden.«
Sieh mal an. Es gab also doch noch einen anderen Grund außer Gorman, warum Kauket unsere Ausflüge so kurz hielt.
»Stören wir ihn nicht auch, wenn wir sie in unserer Welt durchqueren?«
»Er bemerkt es, das lässt er mich spüren. Er kann uns dort nicht viel anhaben, aber ich weiß nicht, was er tun würde, wenn wir ihm in seiner Welt gegenübertreten.«
»Hm«, machte ich. »Vielleicht würde ihn ja mein Seelengeist fernhalten, wenn er sich irgendwann zeigt.«
Kauket verharrte und sah mich mit einem durchdringenden Blick an.
»Hast du irgendein Zeichen von deinem Seelengeist erhalten?«
Ich schüttelte leicht den Kopf.
Kauket entspannte sich wieder. Seine Reaktion bestätigte meinen Eindruck von vergangener Nacht. Mein Seelengeist war am Ende vielleicht doch nicht die harmlose Kreatur, für die ich ihn gehalten hatte. Ganz im Gegenteil, er schien sogar Kauket Respekt einzuflößen.
»Lass uns zurückwandeln«, bestimmte Kauket unvermittelt. »Es gibt etwas, das ich dir erzählen muss.«
Sobald wir durch einen Stockschlag wieder in die Menschenwelt gewandelt waren, marschierte er mit so schnellen Schritten zum Gräberfeld der Urukus hinüber, dass ich fast laufen musste, um mitzuhalten.
Kauket lief in den Rotbuchenhain hinein und blieb schließlich neben einem der moosbewachsenen Gräbersteine stehen. Er musterte das schwarze Zeichen auf dem Stein und begann mit fieberhafter Miene, ein Geistzeichen in den Waldboden zu malen. »Du musst diese Geschichte kennen, um zu verstehen, warum ich dir bisher nicht geholfen habe, die Verbindung mit deinem Seelengeist herzustellen.«
Ich betrachtete das Zeichen im Buchenlaub. Es sah aus wie ein einzelnes, großes Auge.
»Ich nehme an, du hast dieses Zeichen noch nie vorher gesehen, habe ich recht?«
Ich nickte.
»Es ist das Zeichen des Kelpis.«
»Was?«, flüsterte ich und legte die Hand auf meine Kehle. Ich spürte beinahe noch den Würgegriff seiner mächtigen Schattenpranke. Bildete ich es mir nur ein oder fiel mir das Atmen plötzlich schwerer? »Heißt das …«, ich musste mich räuspern, »heißt das, der Kelpi könnte der Seelengeist eines Wanifen werden?«
»Nicht mehr«, sagte Kauket, »aber vor langer Zeit war es möglich.« Er strich beinahe zärtlich über den verwitterten Grabstein, der neben uns stand. »Mein Urgroßvater Schepsi war vor mir der letzte Wanife unseres Volks«, erklärte er. »Als junger Mann verband ihn eine tiefe Freundschaft mit dem letzten Wanifen der Ata – Geralt.«
Der letzte Wanife der Ata! Wie viele Kinder hatte der Kelpi seither getötet? Wie viele Namenlose hatten das Schicksal von Elfgreth und Elman geteilt?
»Wieso wurde Geralt nicht vom Kelpi geholt, als sein Blut erwacht ist?«
Kauket ließ sich neben dem Grabstein nieder und sah über das glitzernde Wasser des Sees. Nach einer Weile setzte ich mich ihm gegenüber.
»Aus einer Laune der Natur heraus verfügen die Wanifen der Ata oft über sehr mächtige Seelengeister. Das traf auch auf Geralt zu. Sein Seelengeist war einer der mächtigsten im ganzen Seenland.«
»Der Kelpi!« Mich fröstelte es plötzlich und ich schlang meine Gamsfelljacke enger um den Körper.
»Der Kelpi«, bestätigte Kauket. »Einen so starken Seelengeist zu haben, ist nicht unbedingt ein Segen, Ainwa. Ein Wanife muss einen unglaublich starken Willen besitzen und ein großes Herz, um dieser Kräfte Herr zu werden. Der Kelpi herrscht über die dunklen Mächte, die in uns schlummern, die Schattenseite unserer Seele. Verdrängen wir diese Mächte, kommen sie auf furchtbare Weise zurück und verschlingen uns, aber lassen wir ihnen die Oberhand, verlieren wir uns selbst. Diesen Kampf führte Geralt jeden Tag aufs Neue. Er war ein guter Mann, aber die verheerende Kraft seines Seelengeists ängstigte ihn. Er verriet seinen Geist und sperrte ihn in eine alte Eibe, um seine dunkle Macht nicht jeden Tag ertragen zu müssen.
Die Gefangenschaft und der Verrat seines Wanifen veränderten den Kelpi. Er entwickelte einen brodelnden Hass auf Geralt und alle Wanifen, die mächtige Geister wie ihn nach ihrem Belieben kontrollieren
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