Die Wanifen
konnten. In ihm erwachte der Wunsch, die Menschen zu beherrschen, so wie ein Wanife seinen Geist beherrscht. Jahrelang zehrte dieser Hass an ihm und machte ihn immer stärker, so lange bis ihn Geralts Zauber nicht mehr halten konnte. Getrieben von seinem Wunsch nach Rache wartete er auf die Rückkehr seines alten Meisters.
In der Nacht des nächsten Blutmonds kehrte Geralt in die Geisterwelt zurück, ohne zu ahnen, dass der Kelpi ihn dort bereits erwartete. Geralt hatte nie einen anderen Wanifen getötet. Als der Kelpi ihm auflauerte, war er ihm hilflos ausgeliefert. Schepsi hörte Geralts Schreie in der Geisterwelt und wandelte hinüber, um ihm zu helfen. Alles, was er fand, waren die Spuren des Kelpis, der Geralt fortgeschleift hatte. Mein Urgroßvater suchte stundenlang vergeblich nach seinem Freund. Er fand ihn schließlich am Ende des Dreibachs …«
Kauket seufzte.
»Was ist der Dreibach?«
Kauket malte mit seinem Finger drei senkrecht angeordnete Kreise in den Sand, die er durch eine gerade Linie verband. Ich glaubte ein leises Flüstern zu hören, doch als ich den Kopf schüttelte, war es wieder verschwunden.
»Alles in Ordnung?«, fragte Kauket.
Ich nickte benommen.
»Der Dreibach ist ein außergewöhnlicher Ort, vielleicht sogar einzigartig. Drei Kraftplätze verbinden sich dort und bilden einen bedeutenden Knotenpunkt für beide Welten. Wenn die Zeit reif ist, Ainwa, werde ich dich dorthin führen.
Am höchst gelegenen Kraftplatz des Dreibachs fand Schepsi Geralts reglose Gestalt. In seiner Brust klaffte ein riesiges Loch. Der Kelpi hatte den Verrat an ihm auf furchtbare Weise gerächt. Er tötete Geralt …« Kauket krümmte seine Finger und drückte sie gegen meine Brust. »… und riss ihm das Herz aus dem Leib.« Er zog seine Hand mit einem Ruck zurück.
Mir wich spürbar das letzte bisschen Farbe aus dem Gesicht. Ich legte die Hand auf meine Brust und fühlte das aufgeregte Schlagen meines Herzens. War es das, wovor Kauket sich fürchtete? Dass mein Seelengeist mir dasselbe antun könnte?
»Gemeinsam mit seinem toten Freund wandelte mein Urgroßvater zurück in unsere Welt. Er wähnte sich in Sicherheit.« Er schüttelte den Kopf. »Viele Dinge änderten sich in dieser Nacht. Bis dahin hatte noch niemand davon gehört, dass ein Geist ohne seinen Wanifen die Schwelle zwischen den Welten überschreiten konnte. Aber der Kelpi hatte das Herz eines Wanifen gestohlen, einen Teil der Menschenwelt, der es ihm ermöglichte, die Grenze zu überwinden.
Er griff meinen Urgroßvater an. Nur durch den Schutz seines Seelengeists und sein außergewöhnliches Talent im Wachsen gelang es ihm knapp, dem Kelpi zu entkommen.«
Ich wunderte mich. Wie hatte Kaukets Urgroßvater das Wachsen gegen den Kelpi einsetzen können? Aber die Frage schien mir im Augenblick nicht die drängendste.
»Die folgenden Tage verbrachte mein Urgroßvater allein im Wald«, fuhr Kauket fort. »Er fürchtete, dass der Kelpi ihm ins Wanifenhaus folgen und seine Familie angreifen würde, aber zu seiner Überraschung stellte er fest, dass der Kelpi die Grenze nicht mehr überschreiten konnte. Später fand er heraus, dass Geralts Herz es dem Kelpi nur in der Nacht des Blutmonds ermöglicht hatte, unsere Welt zu betreten. Doch der Mord an Geralt reichte dem Kelpi nicht, ganz im Gegenteil. Sein Wunsch, nach Belieben in unsere Welt zu wandeln, wuchs mit jedem Tag. Er begriff, dass Geralts Herz, das er sich in die Brust gepflanzt hatte, dafür allein nicht ausreichte. Erst, wenn er auch das Blut der Wanifen besaß, würde er auch die Fähigkeit des Wandelns beherrschen. Das Blut der einzigen Menschen, die die Grenze überschreiten konnten.
So begann seine Jagd auf die Wanifen der Ata. Er tötete sie in der Nacht, bevor sie erwachten, wenn sie noch schwach waren. Schepsi versuchte verzweifelt, die jungen Wanifen zu beschützen, aber wenn man nicht in ihrer unmittelbaren Nähe lebte, war es unmöglich zu erkennen, wer von ihnen das Blut in sich trug.
Seine Stärke lag nicht im Kampf, aber er besaß die Gabe, das Vertrauen wilder Tiere zu gewinnen. Oft blieb er tagelang im Wald, um mit ihnen zu sprechen. Tiere haben ein wesentlich feineres Gespür als wir Menschen. Sie begreifen instinktiv, ob ihr Gegenüber ein Wanife ist oder nicht. Bei jedem Blutmond schickte mein Urgroßvater Tiere nach Ataheim, um die jungen Wanifen vor dem Kelpi zu verstecken und ins Wanifenhaus zu führen, während er versuchte, den Geist abzulenken. Seine
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