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Die Wanifen

Die Wanifen

Titel: Die Wanifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Anour
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angespannter Miene, als würde er krampfhaft nach einem Grund suchen, der noch dagegensprach. Nach einer Weile schloss er die Augen und hob seinen Stab.
    Eine Art feierliche Stille hatte den Rotbuchenhain erfasst, als ich gespannt beobachtete, wie er mit langsamen Strichen und ohne ein einziges Mal die Augen zu öffnen das Zeichen meines Seelengeists in den Waldboden malte. Das Zeichen, das Rainelf zu Tode erschreckt hatte, das Zeichen, von dem Nephtys sich wünschte, dass es für immer tot bleiben würde.
    »Jeder Wanife«, murmelte er noch immer mit geschlossenen Augen, »wird dieses Zeichen erkennen, wenn er es sieht. Und viele würden töten, um es zu bekommen, denn niemals, seit Menschengedenken …«, er öffnete die Augen und fixierte mich, »wurde eine Wanife geboren, die den großen Ata zum Seelengeist hat.«
    Ich starrte Kauket entgeistert an, dann lachte ich auf.
    »Du hast also doch Humor«, meinte ich grinsend. »Ich dachte schon, du würdest gar nichts komisch finden.« Er sah mich nur an.
    Die Augenblicke, bis ich meine Stimme wiederfand, zogen sich quälend dahin.
    »Das ist unmöglich«, brachte ich schließlich hervor. »Du hast selbst gesagt …«
    »Ich sagte, Ata war niemals der Seelengeist eines Wanifen, nicht ehe du erwacht bist.«
    Ich sprang auf, und wandte mich von Kauket ab. »Das muss ein Irrtum sein! Das Zeichen sieht vielleicht nur so ähnlich aus.«
    »Glaubst du, es war ein Irrtum, dass der Streuner dich angegriffen hat?«, meinte er ruhig. »Ein Irrtum, dass du deinen Bruder von der Schwelle des Todes zurückgeholt hast? Ainwa, noch bevor du erwacht bist, hast du unbewusst Dinge getan, zu denen die meisten Wanifen niemals in der Lage wären.«
    Kauket erhob sich ebenfalls und legte mir die Hand auf die Schulter.
    »Warum sollte er das tun, Kauket?«, flüsterte ich. »Wieso sollte Ata gerade mein Seelengeist sein wollen?«
    »Er allein kennt die Antwort darauf. Die Wanifen der Ata hatten immer schon starke Seelengeister, aber das …« Er betrachtete mich kopfschüttelnd.
    Ich wusste nicht genau, wie ich reagieren sollte. Mit Freude? Oder mit Angst? Für mich fühlte es sich so an, als hätte man mir einen riesigen Felsen auf die Schultern gewälzt, der mich langsam zu Boden drückte.
    »Ihr teilt übrigens viele Charaktermerkmale«, meinte Kauket nach einer Weile. »Ata ist sehr unberechenbar, stolz und stur.«
    Ich schätzte, das war Kaukets Versuch, mich aufzuheitern. Ich war ihm zwar dankbar dafür, aber es führte seltsamerweise nicht dazu, dass ich mich besser fühlte.
    »Auf jeden Fall scheint das Band, das euch verbindet, im Augenblick zu ruhen. Wir sollten uns dem Problem also erst wieder widmen, wenn es nötig ist. Jetzt ist es besser für dich, in Ruhe zu lernen, ohne dich auch noch damit herumschlagen zu müssen.«
    Das Ata Problem … Plötzlich sehnte ich mich nach dem harmlosen, sanften Seelengeist, den ich mir während der vergangenen Wochen vorgestellt hatte.
    »Bleib einfach wachsam«, sagte Kauket. »Wenn Ata dir ein Zeichen gibt, lass es mich wissen, sofort, hörst du?«
    Ich nickte abwesend.
    Kauket sah mich verständnisvoll an. »Vielleicht hattest du vorhin recht. Ich denke, du bist bereit für deinen ersten längeren Ausflug in die Geisterwelt. Nun, deinen zweiten, um genau zu sein.«
    »Was?«
    »Du hast richtig gehört«, erwiderte er. »Du darfst allerdings das Wanifenhaus nicht verlassen.«
    »Kommst du denn nicht mit?«
    Kaukets rechter Mundwinkel zuckte. »Na ja, wenn du dich fürchtest, werde ich dich natürlich begleiten.«
    »Nein … nein«, beeilte ich mich zu sagen. Ich bückte mich rasch und hob den Stab auf. Eine seltsame Aufregung ergriff von mir Besitz, die die Identität meines Seelengeists für einen Augenblick in den Hintergrund drängte.
    »Ich möchte es allein versuchen.«
    »Gut. Wie wäre es damit? Keine spezielle Aufgabe diesmal. Keine Regeln. Mach deine eigenen Erfahrungen. Erforsche die Geisterwelt. Schärfe deine Sinne. Halt den Percht in deiner Nähe und komm zurück, bevor die Sonne untergeht.«
    »Was passiert, wenn die Sonne untergeht?«, fragte ich.
    »Es gibt ein paar weniger angenehme Zeitgenossen, die nachts das Tal durchstreifen. Auch dein Bruder gewinnt an Macht, wenn es dunkel wird. Wir können das Risiko nicht eingehen, dass er herausfindet, wo du bist. Nicht einmal die Felswände dieses Tals könnten ihn dann aufhalten.«
    »Ich verstehe.«
    »Also, halte Abstand zu fremden Geistern, verlass unter keinen Umständen

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