Die Wassermuehle
diskret ab. Der überwiegende Teil von Viviennes Bildern geht an Privatsammler ins Ausland.“ Hedi war erstaunt, wie schnell sie sich Lügen ausdenken konnte.
„Hat sie denn keine Ausstellungen?“
„Ich weiß von einer in New York.“
„Wann war das?“
„Irgendwann im vergangenen Jahr, glaube ich. Auf jeden Fall, bevor wir in die Eichmühle gezogen sind.“
Bernsdorf sah sie zweifelnd an. „Ich war in der letzten Zeit beruflich und privat ziemlich angespannt. Aber die Ausstellungsankündigung einer deutschen Künstlerin für New York zu übersehen? Das wäre ein unverzeihlicher Fehler! Ich werde mir ihre Arbeiten gern anschauen. Nach der Besichtigung Ihrer Mühle, wenn Sie erlauben.“
Hedi stand auf. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen?“
Durch eine Holztür im Flur gelangten sie in einen schmalen Gang, der ins Nebengebäude führte. Der Raum, in den sie kamen, war groß, hoch und fensterlos. Lediglich durch die Ritzen des verwitterten Eingangstors fiel etwas Licht. Es dauerte ein Weilchen, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. An den Wänden hingen zerschlissene Kummets und Ochsengeschirre, leere Säcke und alte landwirtschaftliche Geräte. In der Mitte des Raums standen zwei Strohkarren und eine altertümliche, mit einem Schwungrad versehene Häckselmaschine.
Wolfgang Bernsdorf drehte an der Kurbel, und das hölzerne Rad mit den halbmondförmigen Messern begann sich knarrend zu drehen. „Wissen Sie eigentlich, was für einen Schatz Sie hier herumstehen haben? Das Ding ist mindestens einhundert Jahre alt.“
„Von meinem Großvater weiß ich, dass mein Urgroßvater damit Heu und Stroh geschnitten hat.“ Hedi deutete auf ein mit Zahnrädern und einem Gewicht versehenes Eisengestell, in das zwei runde Steinplatten eingelassen waren. „Das da dürfte sogar noch ein paar Jährchen älter sein.“
„Mittelalterlicher Folterkeller, würde ich sagen.“
Hedi lachte. „Nein, eine Käsepresse. Meine Tante hat sie noch benutzt. Ihr selbstgemachter Pfefferkäse schmeckte köstlich.“
„Ihre Tante hat vor Ihnen hier gewohnt?“
„Sie starb im April.“
„Das tut mir leid. Das Foto im Wohnzimmer – ist sie das?“
„Ja.“
„Sie haben sie wohl sehr gemocht?“
Hedi nickte. Sein forschender Blick machte sie verlegen. Sie zeigte auf eine ausgetretene Stiege, die zu einem Loch in der Decke führte. „Da geht’s zum Balkenboden. Ich war seit Jahren nicht mehr oben.“
„Dann wird es Zeit, oder?“
Auf dem Balkenboden war es staubig und eng. Durch zwei glaslose Fensterchen schien die Sonne auf verrostetes Räderwerk und große, eckige Holztrichter. Die Spinnweben an der Decke bewegten sich im Luftzug. Hedi setzte sich auf einen Querbalken vor einen verkrusteten schwarzen Apparat mit einem altmodischen klobigen Elektromotor.
„Der Walzenstuhl“, erklärte sie. „Er mahlt nicht mit Steinen, sondern mit Metallwalzen. Es dauerte sechs Mahlgänge, bis das Korn zu weißem Mehl geworden war. Als mein Großvater Ende der 1920er Jahre Strom hier heraus legen ließ, war das eine Sensation: Plötzlich konnte er zu jeder beliebigen Jahreszeit mahlen und war nicht mehr auf den wechselnden Wasserstand des Mühlbaches angewiesen, der im Sommer austrocknete und im Winter zufror.“
Wolfgang Bernsdorf setzte sich neben sie. Sein rechtes Knie berührte ihr linkes Bein. „Mich faszinieren alte Häuser. Man hat das Gefühl, durch Fenster und Türen in die Vergangenheit zu schauen.“
Hedi sah ihn an. „Als Kind war der Balkenboden mein Lieblingsplatz. Ich stellte mir vor, wie meine Vorfahren Tag und Nacht und Stunde um Stunde Säcke voller Korn herauftrugen, das die tonnenschweren Mühlsteine in den hölzernen Bütten dort drüben rumpelnd zu Mehl vermahlten. Die begrenzte Zeit, in der sich das Mühlrad drehte, brachte den Lohn fürs ganze Jahr.“
„Bis die Elektrizität kam.“
„Mein Großvater hat mir viele herrliche Geschichten erzählt. Leider habe ich fast alles vergessen. Warum lächeln Sie?“
Er legte seine Hand auf ihr Knie. „Ich stelle mir gerade vor, wie Sie als Kind hier gesessen haben: im geblümten Schürzenkleidchen, mit geflochtenen Zöpfen, ganz in Gedanken versunken.“
Hedi stand auf. „Ich hasse Schürzenkleidchen. Und die Zöpfe schnitt ich mit der Nagelschere ab.“
„Sie überraschen mich.“
„Wissen Sie, warum Wassermühlen klappern?“
„Nach der Zeit ein Müller fand, ein Gerippe samt der Mützen. Aufrecht an der Kellerwand, auf der beinern
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