Die Wassermuehle
verlangen? Das ganze Gerede von partnerschaftlicher Freizügigkeit und Toleranz ist nichts als Selbstbetrug.“
Sie trank einen Schluck. „Meine Tochter Elke führte eine offene Ehe und litt wie ein Hund. Nach drei Jahren ließ sie sich scheiden. Es war ihr zweiter Versuch. Der erste dauerte vierzehn Monate und scheiterte am Kinderwunsch ihres Mannes. Jetzt ist sie zweiunddreißig, beruflich ganz oben und nachts sehr einsam. Und kurz vor der Magersucht. Aber glaubst du, das interessiert jemanden? Wenn sie nicht reibungslos funktioniert, wird sie gefeuert. Es gibt genügend Jüngere, die vor der Tür Schlange stehen. Die strahlenden und abgeklärten Powerfrauen, die uns die Medien vorführen, sind genauso eine Mär wie Hedwig Courths-Mahlers Bettelprinzess.“ Sie lächelte. „Obwohl sie selbst auch eine war.“
„Wer war was?“, fragte Hedi verständnislos.
„Nach heutigen Kriterien wäre die Courths-Mahler das Superweib schlechthin“, erklärte Elisabeth. „Vierzehn bis sechzehn Stunden hat sie täglich am Schreibtisch gesessen und sich aus kleinsten Verhältnissen nach oben geschrieben. Über Jahrzehnte hinweg arbeitete sie zielstrebig und aktiv an ihrer Karriere als Schriftstellerin. Nebenbei war sie verheiratet und Mutter von zwei Töchtern. Und ihr Mann Fritz Courths das krasse Gegenteil ihrer strahlenden Helden: Er gab seine Arbeit auf, wurde Hausmann und lebte von ihrem Geld. Aber trotz ihres großen Erfolgs verlor sie nie den Blick für die Realität. Selbstkritisch bezeichnete sie ihre Romane als ganz leichte Unterhaltungslektüre für schlichte Menschen und harmlose Märchen für große Kinder. Sie war also entschieden ehrlicher als viele ihrer modernen Nachfolgerinnen.“
Elisabeth zwinkerte Hedi zu. „Deine Mutter hätte sich besser Goethe zum Vorbild genommen. Die gute Frau Rat pflegte in Versen ihr Leid über ihren Sprössling zu klagen, der derart unordentlich gewesen sein soll, dass seine Gemächer nicht selten einer Müllkippe glichen. In seinen piekfeinen Gewändern fanden sich gar Sand und Steine, und es gab nicht wenige, die argwöhnten, dass sie von der Liebe Glück und Leid mit der hübschen Lili Schönemann aus Offenbach stammten.“
Hedi musste lachen. „Wer hätte das gedacht!“
„Und was seine Dichtung betrifft: Der junge Werther und seine angebetete Lotte schmachteten und weinten nicht weniger herzzerreißend als Bettelprinzesschen Liselotte und ihr Junker Hans, wenn auch zugegebenermaßen literarisch anspruchsvoller. Durch den Roman wurde Goethe quasi über Nacht berühmt, und sein Werther, modern ausgedrückt, zum Kult. Man druckte Motive aus dem Roman auf Keksschalen und Kaffeekannen, parfümierte sich mit Eau de Werther und kreierte sogar eine Werther-Mode: blauer Frack, gelbe Weste, gelbe Hosen, Stulpenstiefel und Filzhut. Vier Jahre nach dem Erscheinen des Romans nahm sich die achtundzwanzigjährige Christiane von Laßberg das Leben. Sie war eine gute Bekannte von Goethe, und es hieß, sie habe seinen Roman in der Tasche gehabt, als sie starb. Das brachte Goethe in große seelische Not. Man nimmt an, dass ihn das letztlich dazu bewogen hat, den Roman mehrmals zu bearbeiten und auf Distanz zu seinem Helden zu gehen. In einigen Regionen war das Buch sogar eine Zeitlang verboten, weil es hieß, es verherrliche den Freitod. Das Nachahmen der Werther-Figur im realen Leben, das sich unter anderem in einem guten Dutzend Suiziden zeigte, stieß eine Diskussion über Medienwirkungen an, die bis heute anhält. Es gibt weniges, das nicht irgendwann irgendwie schon mal dagewesen wäre. Trotzdem sind die Dinge zuweilen anders als sie auf den ersten Blick scheinen.“
„Willst du mir damit sagen, dass ich nicht nach München fahren sollte?“, fragte Hedi betreten.
Elisabeth zuckte die Schultern. „Manchmal ist es schwer herauszufinden, was das Richtige ist, und noch schwerer, es zu tun. Der Entschluss, zu Ludwig aufs Land zu ziehen, war für mich genauso richtig wie er für die meisten anderen Frauen wohl grundfalsch gewesen wäre. Entscheiden kannst nur du selbst.“
Hedi nahm sich einen Keks. „Wenn ich so sicher wäre wie du, wäre es kein Problem.“
Elisabeth setzte an, etwas zu sagen. Stattdessen stand sie auf und brachte die leere Kaffeekanne hinaus.
„Ich war nicht sicher“, sagte sie, als sie zurückkam. Sie schaute auf ihre Hände; sie waren abgearbeitet und rissig. „Ich habe Ludwig betrogen. Und Juliette war die Einzige, die davon wusste.“
Hedi starrte
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