Die Wassermuehle
alles durchgehen lassen, selbst dann noch, als sie längst erwachsen war. Wenn überhaupt, war er das Problem. Juliette hat ihrer Schwester und ihrem Vater nicht nur ihre besten Jahre geopfert, sondern auch ihr Lebensglück. Sie war verlobt, als deine Großmutter starb. Und sie entschied sich, in der Eichmühle zu bleiben. Das Einzige, was sie für sich durchsetzen konnte, waren ein verlängerter Schulbesuch und ihr Studium.“
Hedi schaute in ihre leere Tasse. „Sie war auch für mich wie eine Mutter. Obwohl sie schon so alt war. Und Großvater konnte wunderbare Geschichten erzählen.“
„Ja, das konnte er wohl. Leider fehlte ihm zuweilen das Verständnis, Fantasie und Wirklichkeit auseinanderzuhalten. Die Pleite mit der Gärtnerei hat ihn fast das Haus gekostet. Ich weiß, dass Juliette noch lange nach seinem Tod Schulden abbezahlt hat. Dass sie trotzdem so viel sparen konnte, hat mich überrascht.“
Hedi nickte. „Über Geld hat sie auch mit mir nicht gesprochen. Aber jetzt verstehe ich wenigstens, was die gelöschte Hypothek im Grundbuch zu bedeuten hat. Meinen Großvater habe ich immer nur als fröhlichen alten Mann erlebt. Gerade deshalb liebte ich ihn: weil er nicht war wie meine Mutter, die mit allem gehadert und die meiste Zeit Trübsal geblasen hat. Ich frage mich, warum Juliette mir nie gesagt hat, dass er auch eine andere Seite hatte.“
„Sie sah keinen Sinn darin, dir das Leben noch schwerer zu machen, als es ohnehin schon war“, sagte Elisabeth. „Sie hielt es für besser, dass du deine guten Erinnerungen an ihn bewahrst.“
Hedi fuhr sich über die Augen. „Wie gerne würde ich sie noch einmal in meine Arme nehmen. Und ihr Danke sagen.“ Sie sah Elisabeth an. „Die alte Mühle war für mich das Zuhause, das ich mir so sehnlich wünschte. Auch wenn ich nach außen hin alles tat, mir diese Sehnsucht nicht anmerken zu lassen. Ich glaube, ich war ein ziemlich anstrengendes Kind.“
Elisabeth lächelte. „Ich erinnere mich, ja. Einmal hast du in Kluges Laden das Regal mit den Bonbonnieren umgeworfen vor lauter Zappeligkeit. Und im Übrigen keinen Hehl daraus gemacht, wen du im Dorf mochtest und wen nicht.“
„Gegen Prinzesschen jeglicher Art war ich eben allergisch“, sagte Hedi verlegen.
Elisabeth lachte. „Was war eigentlich mit deinem Vater? Ich habe ihn nie in der Mühle oder im Dorf gesehen.“
„Er mochte weder meinen Großvater noch Juliette. Ich glaube, er gab ihnen die Schuld für die Schwierigkeiten, die er mit meiner Mutter hatte. Als er ging, war ich zehn Jahre alt. Er zog nach Hamburg, und zwei Jahre nach Dominiques Geburt starb er. Viel mehr weiß ich nicht von ihm. Außer sich vor Wut zerstörte meine Mutter alles, was an ihn erinnerte, und dankte Gott, dass ich nicht seinen Namen trug. Ansonsten kannte ich sie bloß lesend, träumend, zeternd oder weinend. Insofern änderte sich nicht viel, als mein Vater uns verließ. Bis auf die Tatsache, dass sich unsere Wohnung endgültig in eine Müllhalde verwandelte. Je mehr ich wegräumte, desto mehr schaffte sie herbei. Der einzige noch frei zugängliche Platz war mein Bett. Ich habe mich sosehr geschämt, dass ich niemandem, nicht mal Juliette, davon erzählte. Zum Glück wohnten wir weit genug von der Eichmühle weg, und meine Mutter verbat sich jeden Besuch. Ich hatte jahrelang Angst davor, dass jemand aus meiner Klasse zu mir nach Hause kommen könnte.“ Sie überlegte, ob sie Elisabeth von der Wette erzählen sollte. Sie entschied sich dagegen.
„Immer wieder habe ich versucht, mit meiner Mutter darüber zu reden, aber es war sinnlos. Stattdessen verbot sie mir, weiterhin zu Weihnachten in die Eichmühle zu fahren. Wenn du wahre Gefühle so sehr verabscheust, wirst du Juliettes kitschigen Christbaum wohl kaum vermissen, oder? Ich hätte sie dafür umbringen können.“
Elisabeth holte den Kaffee und schenkte Hedi ein. „Was hat denn dein Mann zu alldem gesagt?“
„Als ich ihn kennenlernte, schwindelte ich ihm vor, meine Mutter sei tot. Er fand die Wahrheit schnell heraus. Er ging sie besuchen, trank in Seelenruhe einen Kaffee mit ihr und bestellte einen Müllcontainer. Mach dir mal keine Gedanken, Schatz. So was sehe ich im Dienst öfter. Das kriegen wir schon hin.“
Elisabeth lächelte. „Warum will er eigentlich nicht in die Mühle ziehen?“
Hedi zuckte mit den Schultern. „Er hat sich in den Kopf gesetzt, ein Haus in Offenbach zu kaufen.“
„Aber das ist doch kein Grund.“
„Wenn Klaus es darauf
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