Die Wassermuehle
Jeans und T-Shirt aus und streifte das Kleid über. Es reichte ihr fast bis zu den Knöcheln und passte wie angegossen. Der Stoff fühlte sich seidig an, der Schnitt war herrlich bequem. Seit ihrer Schulzeit hatte sie kein Kleid mehr getragen, aber dieses mochte sie auf Anhieb. Es war nicht zu elegant und nicht zu flippig, sondern schlicht und einfach schön. Sie konnte sich gar nicht genug im Spiegel betrachten. Woher hatte Wolfgang gewusst, dass ihr so etwas stand? Sogar ihre Leinenschuhe passten dazu.
„Wunderbar“, sagte er, als sie ins Wohnzimmer zurückkam. Er nahm sie in seine Arme und küsste sie auf die Stirn.
Hedi befreite sich lachend. „Kurz vor meinem vierzehnten Geburtstag schwor ich bei meinem Leben, nie wieder ein Kleid anzuziehen. Selbst an meiner Hochzeit machte ich keine Ausnahme. Wenn ich also gleich tot umfalle, bist du schuld.“
„Verrätst du mir, warum du so einen unsinnigen Schwur getan hast?“, meinte er lächelnd.
Sie winkte ab. „Dumme Kindereien.“
„Ich hoffe, es gefällt dir.“
„O ja! Danke.“
Er schaute auf die Uhr. „Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich schnell die Bilder in die Galerie bringen und meiner Mitarbeiterin Bescheid geben, dass sie die Ausstellungstexte ergänzt. Wie lauten eigentlich die Titel?“
„Welche Titel?“, fragte Hedi.
„Vivienne hat ihren Arbeiten doch sicher Namen gegeben, oder?“
Hedi spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. „Liebe Güte, ja! Wo habe ich bloß den Zettel hingetan?“
Wolfgang grinste. „Sind sie etwa so kompliziert, dass du sie dir vom Odenwald bis hierher nicht merken konntest?“
„Ich glaube, der Wisch liegt noch im Auto.“
„Sag mir, wo. Ich werde ihn schon finden.“
„Oder in meiner Reisetasche? Warte bitte einen Moment, ja?“ Sie ging ins Gästezimmer, schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Blumenwiese bei Sonnenuntergang hatte Vivienne gesagt. Oder war es Blumenwiese bei Sonnenaufgang gewesen? Egal. Das eine klang so banal wie das andere. Außerdem war von der Wiese nichts mehr zu erkennen. Himmel noch mal! Es konnte nicht so schwer sein, sich drei Titel auszudenken! Etwas Ausgefallenes musste her! Wolfgang liebte ausgefallene Sachen und dieser Dr. Siebmann vermutlich auch. Katzenpfotige Tonabdrücke? Stillleben mit Kratzspur-Salami? Oder einfach Katzenkunst? Gott, war das fantasielos. Vielleicht in Englisch? Cat-Art. Da wusste aber immer noch jeder, was gemeint war.
Nervös lief Hedi im Zimmer auf und ab. Verfremden müsste man das Ganze! Möglichst so, dass man den ursprünglichen Sinn nicht mehr erkannte. Die anspruchsvollen Kunstkritiker hätten was zum Rätseln, und Viviennes Bilder umgäbe der Hauch des Mystischen. Kättaat. Das war’s! Und das Bild, das der Hofhahn attackiert hatte? Hahn-Füße. Aber was hieß Hahn auf Englisch? Die einzige Vokabel, die Hedi einfiel, war Chicken McNuggets. Hühnchenfüße. Chickenfeet – Schickfiet!
Blieb noch das Werk mit Christoph-Sebastians Handabdrücken. Vielleicht eine kleine Hommage an den Schöpfer? Hedi kramte in der Reisetasche nach ihrem Notizblock, schrieb den Namen ihres Neffen auf, malte darin herum und sortierte neu. Sie riss ein leeres Blatt aus dem Block und notierte das Ergebnis.
„Ich musste die ganze Tasche durchwühlen, aber ich hab’s gefunden“, sagte sie lächelnd, als sie ins Wohnzimmer zurückkam.
Wolfgang studierte den Zettel. „Kättaat, Schickfiet, St. Tophian-Chirbasse. Saint Tophian – ist das ein Ort?“
„Keine Ahnung.“
„Die Titel sind so geheimnisvoll wie die Bilder. Das wird Dr. Siebmann gefallen. Wenn du mir jetzt noch verrätst, was wohin gehört?“
Hedi erklärte es ihm.
„Hast du eine Ahnung, wie Vivienne auf die Motive gekommen ist?“
„Sie erwähnte, dass die Titel dem jeweiligen Sujet entsprungen seien. Ich denke, alles Weitere wäre Kaffeesatzleserei, und die überlassen wir besser anderen.“
„Schlimmstenfalls rufe ich sie morgen früh an.“
Hedi wurde blass. „Hast du vergessen, was du mir versprochen hast?“
Er grinste. „Soll das etwa heißen, sie weiß immer noch nichts von der Sache?“
„Nimm’s mir nicht übel, aber solange dieser Dr. Siebmann die Bilder nicht gekauft hat, werde ich auf keinen Fall ...“
„Für Bedenken ist es jetzt aber zu spät: Morgen werden die Arbeiten öffentlich gezeigt, und das war ja wohl genau das, was der anonyme Sammler partout nicht wollte, oder? Ich nehme also nicht an, dass er übermorgen noch sonderlich großes Interesse
Weitere Kostenlose Bücher