Die Wassermuehle
„Irgendwie habe ich es die ganze Zeit über gewusst. Ich wollte es nur nicht wahrhaben. Vielleicht könnten wir trotzdem Freunde bleiben.“
Hedi nickte.
„Es gibt nicht allzuviele Menschen, bei denen ich sicher bin, dass sie mich um meiner selbst willen mögen.“
„Wolfgang, ich ...“ Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte.
„Hedi! Was ist denn?“, fragte er bestürzt.
„Ich bin’s nicht wert.“ Sie ließ ihre Hände sinken. „Ich habe dich belogen. Vom ersten Tag an. Eigentlich wollte ich es dir gestern Abend schon sagen, aber dann musstest du weg, und ...“
„Was wolltest du mir sagen?“
„Auch wenn du mich anschließend verachtest, ich schwöre dir: Das zwischen uns hat nichts damit zu tun! Aber als du zum ersten Mal in die Eichmühle kamst, fand ich dich schrecklich arrogant, und dann sagtest du, dass du das Besondere liebst, und da kam mir plötzlich dieser Gedanke, und ich hatte überhaupt kein schlechtes Gewissen dabei. Ich konnte doch nicht ahnen ... Vivienne hat die Bilder in deiner Galerie nicht gemalt. Zumindest nicht ganz.“
Sein Gesicht zeigte keine Regung. „Verstehe. Ihr habt euch einen Spaß daraus gemacht, es dem blasierten Schnösel aus München so richtig zu geben.“
„Vivienne hatte keine Ahnung. Es war allein meine Idee.“
Sein Blick tat weh. „Warum, Hedi?“
„Ich wusste mir keinen anderen Rat mehr. Wir haben Schulden. Ich werde die Mühle nicht halten können.“
„Wenn Vivienne die Bilder nicht gemalt hat – wer dann?“
Nicht einmal für die Wohnung ihrer Mutter hatte sich Hedi so geschämt wie für dieses Geständnis. „Mein sechsjähriger Neffe, die Katzen und der Hofhahn.“
„Wie bitte?“
„Das ist eine längere Geschichte.“
Er wies zum Sofa. „Ich habe die ganze Nacht Zeit.“
Hedi setzte sich und fing stockend an zu erzählen: Von ihrer Liebe zu Juliette und der alten Mühle, vom Wiedersehen mit Vivienne, ihrer Begeisterung für die Malerei und dem verzweifelten Bemühen, Käufer für ihre Bilder zu finden; von der erfundenen Kunstagentin und Anettes demütigendem Auftritt; von Juliettes verlorenem Erbe, den drückenden Schulden, von Elisabeth, Uwe und der Gärtnerei und schließlich von Christoph-Sebastians Streich und Viviennes Entsetzen darüber. Sie schloss mit der Schilderung, wie sie gestern auf die Schnelle versucht hatte, passende Titel zu finden.
„Interessant“, sagte Wolfgang.
Hedi versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Es gelang ihr nicht. „Ich nehme die Bilder selbstverständlich zurück und spreche mit Dr. Siebmann! Gleich morgen früh, wenn du willst.“
„Du glaubst also, dass deine Idee besonders originell war, ja?“
„Nein! Ich dachte nur ...“
Er ging aus dem Zimmer. Hedi sah ihm traurig hinterher. Sie stand auf und begann, das unbenutzte Geschirr zusammenzustellen.
„Ich habe noch nicht gegessen!“, sagte Wolfgang, als er zurückkam. Er gab ihr eine Klarsichthülle, in der ein vergilbter Zeitungsartikel steckte. „Lies das, bitte.“
Hedi warf einen Blick darauf. Cat-Art. Wir müssen der Katze die Ernsthaftigkeit geben, die ihr zusteht: Burton Silver stellt malende Katzen vor. „Das ist ein Scherz, oder?“
Er zuckte die Schultern. „In den 1990er Jahren war das mal en vogue. Angeblich kippten sie Katzenurin in die Farbtöpfe, damit die Viecher ordentlich rangingen und Liebhaber zahlten bis zu dreißigtausend Dollar pro Bild. Auch wenn deine Haustiere und dein Neffe ein bisschen mitgeholfen haben: Urheberin der Decollagen ist und bleibt Vivienne.“
„Aber wenn Herr Siebmann herausbekommt, dass ...“
„Dr. Siebmann hat ein Faible für kreative Techniken. Könnten wir die Diskussion damit beenden? Ich habe Hunger.“
„Mir ist es sehr wichtig, dass du nicht glaubst, ich wollte dich ausnutzen.“
„In diesem Fall hättest du mich im Schlafzimmer empfangen, oder? Sonst noch was?“
Hedi lächelte verlegen. „Was, bitte, sind Decollagen?“
Er grinste. „Der Begriff geht auf Heinz Reinhold Köhler zurück, der 1919 geboren wurde, und bezeichnet ein Kunstwerk, das durch die destruktive Veränderung von vorgefundenen Materialien, etwa die Zerstörung einer Oberfläche durch Zerschneiden oder Ähnliches entsteht.“
Hedi stellte die Teller zurück und zündete die Kerzen wieder an. „Ich werde es Christoph-Sebastian bei Gelegenheit erklären.“
Wolfgang lachte. Gemeinsam holten sie die Schüsseln und das Fleisch aus der Küche.
„Ich hoffe, es ist noch warm genug“,
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