Die Wassermuehle
Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.
„Ein paar Minuten wirst du dich wohl noch gedulden können!“, sagte Anette.
„Schwerlich, liebste Schwägerin.“
Die Hausglocke ging, und weitere Gäste trafen ein. Anette begrüßte sie. Bernd klopfte Klaus auf die Schulter. „Du hast vollkommen recht, Brüderchen. Im Notfall schmeckt der Sekt auch ohne Empfang.“ Er winkte den Livrierten herbei. „Besorgen Sie uns mal was Ordentliches zu trinken und einen Happen zu essen, ja?“
Anette kam zurück. „Der Bürgermeister ist da“, sagte sie zu Bernd. „Du musst ihn begrüßen.“
„Warum?“, fragte Klaus.
Anette warf ihm einen wütenden Blick zu und fasste Bernd am Ärmel. „Los! Komm.“ Bernd zuckte bedauernd mit den Schultern und folgte ihr.
„Hör bitte auf, sie zu provozieren“, sagte Hedi.
„Sie ist selbst schuld, wenn sie uns einlädt, oder?“
„Das ist kein Grund, sich wie ein Bauer zu benehmen!“
„Beim nächsten Mal habe ich Dienst. Verlass dich drauf.“
Es dauerte fast zwei Stunden, bis die Festgesellschaft vollzählig war. Mit den letzten Gästen traf auch Therese Augusta Winterfeldt ein. Über ihrem fliederfarbenen Paillettenkleid trug sie eine weiße Pelzstola; ihr blondiertes Haar war auftoupiert. Sie drückte Gerlinde die Stola in die Hand und ging lächelnd auf Bernd und Anette zu. Hausmädchen und Diener begannen, den Gästen Schnittchen und Sekt zu reichen.
„Pünktlichkeit ist anscheinend das Privileg der unteren Schichten“, sagte Klaus zu Hedi.
Eine Dame in einem bodenlangen Wickelkleid schaute ihn pikiert an. Sie flüsterte Anette etwas zu.
Klaus grinste. „Unsere Schwägerin rechtfertigt sich gerade dafür, dass sie das Proletariat am Sekt nuckeln lässt.“
„Deine Mutter kommt zu uns herüber“, sagte Hedi. „Sie sieht nicht sehr friedlich aus.“
Therese Winterfeldt musterte die Hose ihres Jüngsten mit einem empörten Blick. „Kannst du deinem Mann nicht beibringen, dass er sich vernünftig anziehen soll?“, sagte sie zu Hedi.
Hedi schoss das Blut in den Kopf. „Wenn dir an deinem Sohn etwas missfällt, sage es ihm bitte selbst. Er steht neben dir.“
Klaus zuckte die Schultern. „Ich trage das Gleiche wie bei meiner Hochzeit, Mutter.“
„Du bist ein Botokude!“ Sie drückte ihm ihr leeres Sektglas in die Hand, drehte sich um und ging.
„War das jetzt ein Lob oder ein Tadel?“, fragte Klaus und stellte das Glas hinter sich auf die Fensterbank.
„Ich werde mein Lebtag nicht begreifen, wie du Spaß daran haben kannst, dich in Grund und Boden zu blamieren!“, sagte Hedi gereizt.
„Die sind alle nackt zur Welt gekommen, oder? Ich bin kurz vor dem Verhungern.“
Bernd kam mit zwei gutgefüllten Whiskygläsern auf sie zu. „Lass uns auf unsere glückliche Kindheit anstoßen, kleiner Bruder“, nuschelte er.
Klaus nahm ihm ein Glas ab. „Da musst du aber ordentlich was verdrängt haben.“
„Mutter ist wütend auf dich.“
„Sie mag mein Outfit nicht. Aber das ist ja nichts Neues. Prost!“
„Prost!“ Bernd leerte sein Glas in einem Zug, winkte einen Diener herbei und ließ sich nachschenken. „Verflixt heiß hier, oder?“ Er zog sein Einstecktuch heraus, fuhr sich damit über die Stirn und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden.
„Das ist aber auch nicht nach der Etikette, oder?“, fragte Klaus amüsiert.
„Scheiß doch auf die Etikette.“
„Deine Ansichten sind nicht karrierefördernd, Bruderherz.“
„Scheiß doch auf die Karriere!“ Bernd legte Hedi seinen Arm um die Schultern. Alkoholatem wehte ihr ins Gesicht. „Dein Frauchen sieht heute richtig schnuckelig aus.“
„Ich bin kein Frauchen!“, sagte Hedi und befreite sich.
Bernd grinste. „Aber, aber. Warum bist du denn so kratzbürstig zu mir, schöne Schwägerin?“
„Du bist betrunken.“
„Ein guter Whisky schärft den Sinn für Ästhetik, Schätzchen.“
Hedi fragte sich, was Anette wohl dazu sagen würde. Aber die war mit ihren wichtigen Gästen und den Anweisungen für das Personal beschäftigt.
„Gerlinde! Ist im Salon gedeckt?“
„Ja, Frau Winterfeldt.“
„Darf ich Ihnen noch etwas Sekt einschenken lassen, Herr Professor Doktor Schult-Prieslett?“
„Aber gerne, Frau Winterfeldt.“
Aus dem Salon drang lautes Klirren. Die Gäste verstummten, Anette wurde blass. „Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Professor Doktor Schult-Prieslett.“
Sie verschwand im Salon. Die Gäste hörten einen unterdrückten Schrei,
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