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Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)

Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)

Titel: Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Hamilton
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Hilfe bitten wollte, wurde ihr Traum jäh unterbrochen. Ava träumte selten und dann immer von ihrem Vater. Die Orte, Situationen und anderen Personen wechselten, aber das war unwichtig. In den endlosen Variationen lief es immer darauf hinaus, dass ihr Vater sie verließ und sie ihn aufzuhalten versuchte oder ihn anflehte, zu bleiben. Nie erwischte sie ihn, er ging jedes Mal fort.
    Jetzt spürte Ava, dass jemand da war, denn es wurde plötzlich heller. Sie lag auf dem Rücken, die Arme neben dem Körper und den Kopf auf zwei Kissen gebettet. Als sie die Augen öffnete, sah sie die massige Gestalt im Türrahmen, vom Wohnzimmerlicht umgeben wie von einer Aureole. Sie glaubte, ihn atmen zu hören. Wie erstarrt lag sie da, den Blick auf die Tür geheftet. Ihre Arme lagen über der Decke, die Beine darunter. Die Entfernung zwischen Tür und Bett würde ihr genug Zeit geben, um zu reagieren, falls Robbins vorhatte, sich auf sie zu stürzen.
    Soll ich etwas sagen? Nein, soll er glauben, dass ich schlafe. Soll er versuchen, zu vollenden, wozu er gekommen ist, dann werde ich tun, was ich für richtig halte. Wie weit würde sie gehen? In ihrer Vorstellung gab es keine Grenzen. Geld hin oder her, sie würde ihn nicht so nah herankommen lassen, dass er meinen könnte, er hätte eine Chance. Sollte sich der Captain doch entscheiden, was ihm wichtiger war: der Zahltag oder sein Bruder. Minuten verstrichen, oder vielleicht nur Sekunden – Ava verlor jegliches Zeitgefühl. Unbeweglich stand Robbins im Türrahmen, sein riesiger Kopf zum Bett gewandt. Seine Augen waren nicht zu erkennen, und sie fragte sich, ob er ihre sehen konnte und wusste, dass sie wach war.
    Unvermittelt kam Bewegung in seinen Körper, er drehte sich um und griff nach dem Türknauf. Avas Beine zuckten; sie spannte den Körper an, und ihr Geist wurde klar. Er trat einen Schritt zurück. Ein letzter, tiefer Atemzug, dann wurde die Tür geschlossen, und das Zimmer war erneut in Dunkelheit getaucht. Danach konnte sie nicht mehr einschlafen. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, und es kümmerte sie auch nicht. Sie zwang sich, an etwas anderes als den Mann im Zimmer nebenan zu denken. Ihre Wahl fiel auf Jeremy Bates und Barrett’s Bank. Eine Frage nach der anderen beschwor sie herauf und schleuderte ihm eine Antwort nach der anderen hin, bis Sonnenlicht durch die Jalousie vor ihrem Fenster sickerte, sich im Zimmer ausbreitete und nach und nach ihre nächtlichen Ängste vertrieb.
    Als sie aus dem Bett schlüpfte, spürte sie die kalten Fliesen unter den Fußsohlen und musste noch dringender auf die Toilette. Mit ihrem Kulturbeutel in der Hand öffnete sie die Tür energisch. Sechs leere Flaschen Stella Artois standen auf dem Couchtisch. Robbins hatte das Sofa, nicht aber den Raum verlassen. Er saß auf einem Stuhl, mit dem er die Appartementtür versperrte. Sein Kopf war nach hinten gesunken, sein Mund stand offen, und er schnarchte gelegentlich.
    Ava ging ins Bad und verschloss die Tür. Sie nahm sich eine halbe Stunde für alles und konnte sich nicht erinnern, die Zeit im Bad je so genossen zu haben. Während sie ihrem Make-up den letzten Schliff gab, hörte sie ein Schlurfen im Wohnzimmer. Sie hatte keine Lust, die Badezimmertür aufzumachen und Robbins direkt in die Arme zu laufen. Dann wurden die Geräusche, die er machte, immer undeutlicher, und ihr schossen zwei Möglichkeiten durch den Kopf: Entweder war er in ihrem Schlafzimmer, oder er lauerte vor dem Badezimmer auf sie.
    Vorsichtig öffnete sie die Tür und entdeckte ihn sofort. Er stand an der Tür zu Setos Zimmer. »Sie müssen sich um den Typen kümmern«, verlangte er.
    Sie hatte Seto ganz vergessen. Als sie sein Zimmer betrat, wand er sich auf dem Bett, strampelte die Decke weg und enthüllte eine Boxershorts, die seinen streichholzdürren Beinen nicht schmeichelte. Als er Ava erspähte, bedeutete er ihr mit dem Kopf, näher zu kommen. Sie zog das Klebeband von seinem Mund ab. »Ich muss pinkeln«, keuchte er. Seine Augen waren immer noch glasig vom Schlafmittel, aber die Wut und das wachsende Selbstbewusstsein, die am Abend zuvor darin gelegen hatten, waren aus ihnen verschwunden. Er sah aus wie ein geprügelter Hund, was ihr eindeutig lieber war.
    »Bringen Sie ihn ins Bad«, sagte sie zu Robbins, der ins Zimmer gekommen war und nur ein paar Schritte hinter ihr stand. »Benehmen Sie sich«, sagte sie zu Seto.
    »Vergessen Sie’s«, erwiderte Robbins.
    »Ich kann es nicht machen, und er kann

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