Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
Umständen stellen. Priorität hatten Jeremy Bates und Barrett’s Bank. Wenn sie dort keinen Erfolg hatte, waren Robbins’ Drohungen ihr geringstes Problem, und Andrew Tam wäre erledigt. Sie musste sich also auf die Bank konzentrieren.
Ava schenkte sich ein Glas Wein ein und schlug das Notizbuch auf. Zehn Minuten lang überarbeitete sie ihre Strategie, versuchte Schwachstellen ausfindig zu machen und möglichen Fragen vorzugreifen. Der Plan war nicht perfekt, konnte er bei Setos Zustand auch nicht sein, aber in den Grundzügen war er trotz Robbins’ Einmischung brauchbar. Sie musste die Bank dazu bringen, das Geld zu überweisen, und das lag in ihrer Hand, war unter ihrer Kontrolle. Was danach passierte, wo und wie das Geld den Besitzer wechselte … das war völlig offen, und auch darüber dachte sie nach.
Seit ihrer Landung auf Beef Island hatte sie sich in einem Zustand der Ungläubigkeit befunden, hatte mechanisch reagiert und sich bemüht, die Fassung zu bewahren. Robbins hatte sie eiskalt erwischt, sie saß ziemlich in der Patsche, das ließ sich nicht leugnen. Kein Derek. Kein Reisepass. Kein Handy. Jack Robbins auf dem Sofa. Aber in welcher Gefahr schwebte sie tatsächlich? Im Hinblick auf Seto und die Bank hatte sich nichts geändert, außer Robbins’ Ansprüchen. Wenn das alles war – wovon sie ausgehen musste –, ließ es sich machen. Blieb nur die Frage, wie sie damit umgehen sollte.
Sie konnte natürlich das tun, was sie Captain Robbins angekündigt hatte. Was allerdings gewisse Schwierigkeiten mit sich brachte. Die geringste davon war: Würde sich Robbins mit 2,2 Millionen Dollar zufrieden geben? Was, wenn er noch gieriger wurde, wenn sie das Geld erst in Hongkong hatte? Was, wenn er ihr den Pass weiter vorenthielt und erneut Geld forderte?
Zudem war da das ethische Dilemma mit Andrew Tam. Das Geld gehörte ihm. Er hatte ein Anrecht auf die Gesamtsumme. Vom praktischen Standpunkt aus betrachtet, hatten Onkel und sie ihm natürlich keine Garantie gegeben, dass er einen Teil oder sogar alles zurückbekommen würde, doch Ava konnte sich nichts vormachen: Der volle Betrag war zum Greifen nah und mit etwas Einfallsreichtum konnte sie ihn wiederbeschaffen. Wieso Robbins etwas abgeben, wenn es auch anders ging?
Wie entgegenkommend, wie leicht zu täuschen wäre Robbins, wenn er erfuhr, dass die Überweisung nach Hongkong bewerkstelligt war? Angenommen, er begnügte sich mit 2,2 Millionen Dollar, würde er ihr den Pass zurückgeben und sie ausreisen lassen, sobald er die Bestätigung der Überweisung auf sein Cayman-Islands-Konto hatte, oder würde er warten, bis das Geld tatsächlich eingetroffen war? In Guyana hatte er sich durchaus mit der Überweisung zufrieden gegeben. Aber das war in Guyana gewesen, und es war um einen geringeren Einsatz gegangen. Wie sehr vertraute er ihr wirklich?
Es würde einen Plan A und einen Plan B geben, entschied sie, und verbot sich, weiter darüber nachzudenken. Konzentrieren wir uns auf morgen , sagte sie sich und schlug ihr Notizbuch erneut auf. Hinten hatte sie eine Kopie von Setos Führerschein eingeklebt. Sie legte sie unten auf eine leere Seite, darüber begann sie, Setos Unterschrift nachzuahmen. Gegen Ende der Seite wirkte es allmählich authentisch.
Ava schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein und beobachtete, wie sich am Dock eine Gruppe von zehn Leuten einem Schiff näherte, das einem kleinen, schwimmenden Hotel glich. Es schienen Paare und alte Freunde zu sein, die sich untergehakt oder einander locker den Arm um die Schultern gelegt hatten. Sie schwankten leicht, und Ava hörte ihre Stimmen, die glücklichen Stimmen glücklicher Menschen, die wahrscheinlich gerade ein Gourmet-Menü und sechs Flaschen Wein genossen hatten. Egal, ich habe auch Wein , dachte sie, und einen schönen Abend und einen tollen Ausblick. Es könnte schlimmer sein. Hätte sie bloß Tommy Ordonez nicht gegoogelt.
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A va legte sich angezogen aufs Bett, und ihre Gedanken wanderten von Jeremy Bates zu Robbins. Langsam und tief atmend versuchte sie, sich auf ihre Bak-Mei-Übungen zu konzentrieren. Es fiel ihr schwer, doch nach einer halbe Stunde schlief sie ein. Sie träumte, sie sei mit ihrem Vater in einem Hotel und bereite sich auf die Abreise vor. Er wollte auschecken und bat sie, ihre Taschen aus dem Zimmer zu holen. Dieses konnte sie nicht finden, irrte von einer Etage zur nächsten, und ihre Frustration und Panik wuchsen. Als sie schon zurück zur Lobby eilen und ihn um
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