Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
schlug das Notizbuch auf und betrachtete die gefälschten Unterschriften vom Vorabend. Nicht übel , dachte sie.
Setos Unterschrift hatte vieles für sich. Zum einen war sie kurz, bestand nur aus JSeto . Zum anderen sah sie auf jedem Dokument etwas anders aus. Natürlich ähnlich und wiedererkennbar, aber mit kleinen Variationen. Das ließ ihr etwas Spielraum. Trotz dieser Pluspunkte saß sie einige Minuten still am Tisch und nahm all ihren Mut zusammen. Sie machte das nicht zum ersten Mal, und bisher hatte es immer geklappt, doch ihre perfektionistische Ader ließ sie nie hundertprozentig zufrieden sein. Zwar kam man schon mit einer halbwegs guten Fälschung durch, aber sie fürchtete, irgendwann an jemanden zu geraten, der ähnlich pingelig war wie sie selbst.
Auf einer leeren Notizbuchseite fing sie an zu üben. Die Unterschrift bestand größtenteils aus einem verschnörkelten J, wobei der untere Kringel in den oberen überging, und einem recht schlichten S, gefolgt von einer geraden Linie, die in einem Punkt endete. Wenn sie das dominante J richtig hinbekam, würden andere Ungenauigkeiten nicht auffallen. Das Proportionsverhältnis zwischen dem oberen und dem unteren Kringel war allerdings knifflig, und wenn es nicht stimmte, wirkte die Unterschrift gezwungen.
Ava fing mit dem J an – schrieb ein J nach dem anderen. Sie musste beinahe eine ganze Seite füllen, bis sie drei Signaturen hintereinander hinbekam, die ungefähr gleich aussahen. Sie schloss die Augen und visualisierte sie vor dem inneren Auge. Ich habs, dachte sie.
Als Nächstes nahm sie sich die neun Ausweiskopien vor. Den Blick halb auf das von Seto unterzeichnete Bankdokument gerichtet, unterschrieb sie rasch eine nach der anderen. Einzig die beiden letzten waren nicht ganz gelungen – das J war schief. Mach eine Pause , du brauchst Abstand , dachte sie, stand auf und stellte den Wasserkocher an. Während das Wasser heiß wurde, ließ sie den Blick über den Hafen schweifen, wo erstaunlich viel los war.
Sie trank eine halbe Tasse Kaffee auf dem Balkon, um den Kopf freizukriegen, danach setzte sie sich wieder an den Tisch. Erst nach zwei weitere Zeilen Js hatte sie ihre Ausgewogenheit wiedergefunden. Rasch ersetzte sie die beiden verdächtigen Unterschriften und nahm darauf die auf dem Überweisungsantrag in Angriff. Alles ging gut, selbst für ihr paranoides Auge waren die Signaturen nicht von denen zu unterscheiden, die die Bank in den Akten hatte. Das war der leichte Teil der Übung , dachte sie, während sie die Papiere zu zwei gleichen Stapeln ordnete.
Um Bates anzurufen, war es noch zu früh. Es wäre kontraproduktiv, ihn glauben zu lassen, Seto ginge es so gut, dass er unverzüglich unterschreiben konnte. Sie würde warten. Es war fast halb zwölf. Um eins – nein, halb zwei wäre besser. Gib ihm Zeit fürs Mittagessen.
Als Ava die Dokumente einsammelte und im Ordner abheftete, merkte sie plötzlich, wie müde sie war. Sie war eine Ewigkeit wach, der Morgen war anstrengend gewesen, und da sie genug Zeit hatte, konnte eine kleine Ruhepause nicht schaden.
Schweigend, ohne einen Blick ging sie an Robbins’ Zimmer vorbei. Wenn er nicht merkte, dass sie ihre Arbeit beendet hatte, war das sein Pech. Sie schloss die Tür hinter sich und legte sich aufs Bett. In ihrem Kopf herrschte größeres Chaos, als ihr lieb war. Bates beschäftigte sie schon genug, aber Robbins – beide Robbins-Brüder, um genau zu sein – störten ihre Konzentration. Sie versuchte, alles auszublenden, dachte an Bak Mei, die Kranich-Position: das Bein, das zum Tritt angehoben wurde, während die Hände blitzartig zuschlugen.
Ava erwachte mit einem Ruck und starrte zur Tür hinüber, die verschlossen war. Sie lag vollständig angezogen auf dem Bett, alles war an seinem Platz. Die Uhr zeigte Viertel vor drei. Sie setzte sich auf die Bettkante und fasste sich. Als sie die Schlafzimmertür öffnete, sah sie Robbins, der wieder auf dem Sofa lag und fernsah. Im Bad wusch sie sich mit kaltem Wasser das Gesicht und klopfte sich auf die Wangen. Dann löste sie ihre Haare, kämmte sie und steckte sie mit der Elfenbeinnadel hoch. Danach frischte sie ihr Make-up auf. Ihre Augen waren vom Schlaf leicht verquollen, aber das ließ sich nicht ändern.
Robbins wandte sich ihr zu, als sie wieder ins Wohnzimmer kam. »Ich muss bei der Bank anrufen«, sagte sie.
»Benutzen Sie dieses hier.« Er deutete auf das einzige Telefon des Appartements, das neben der Küche an der Wand
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