Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
hing.
Sie wählte die Nummer auf Bates’ Visitenkarte, in der Annahme, es handle sich um seine Durchwahl, doch statt seiner meldete sich die Dame vom Empfang mit rollendem R: »Barrett’s Bank.«
»Mr. Bates, bitte. Ms. Lee am Apparat.«
Sie wurde schnell zu ihm durchgestellt, vermutlich hatte er schon auf ihren Anruf gewartet, immerhin hatte er gesagt, sie sei eine angenehme Abwechslung. »Ava, wie kommen Sie voran?«
»Hallo, Jeremy. Gar nicht schlecht. Jackson hat die Anträge und die anderen erforderlichen Dokumente unterschrieben.«
»Wunderbar. Und wann werde ich Sie beide treffen?«
Ihr fiel auf, dass er fast unmerklich das Wort beide betonte. Ava atmete kurz durch. Jetzt wusste sie mit absoluter, hundertprozentiger Gewissheit, dass Jeremy Bates die Überweisung auf keinen Fall absegnen würde, ohne Jackson Seto gesehen zu haben. Jeden anderen Vorschlag, egal, wie clever ausgetüftelt, würde er abschmettern. Natürlich konnte sie versuchen, ihn mit ihrem Charme einzuwickeln, aber selbst Charme hatte seine Grenzen, und wenn es um Geld ging, zog er meist den Kürzeren.
»Unglücklicherweise hat sich an Jacksons Zustand nichts geändert, Jeremy. Um ehrlich zu sein, ich habe schon Probleme, ihn vom Schlaf- ins Badezimmer zu bugsieren, von Umziehen und einem Besuch bei der Bank gar nicht zu reden. Genau genommen wollte ich Sie fragen, ob Sie mir einen guten Arzt nennen können.«
»Oh«, sagte er.
Mit einem Anflug von Panik glaubte Ava, Zögern, Fragen und Zweifel aus diesem Ausruf herauszuhören, und sprach hastig weiter, bevor er seinen Bedenken Ausdruck geben konnte. »Es gibt allerdings noch einen anderen Weg«, fuhr sie so ungezwungen wie möglich fort. »Warum kommen Sie nicht einfach vorbei und holen die Unterlagen ab? Jackson würde sich freuen.«
Er antwortete nicht sofort, und sie fürchtete, den Bogen überspannt zu haben. »Das ist keine schlechte Idee«, antwortete er schließlich.
»Je eher, desto besser«, fügte Ava hinzu. »Er ist völlig erschöpft und nickt ständig ein.«
»In einer Stunde?«, fragte er.
»Perfekt. Wir wohnen in Appartement 312.«
»Bis dann also.«
36
A va versuchte sich in Bates hineinzuversetzen. Jede Transaktion, die er durchführte, musste genau unter die Lupe genommen werden, weil sie ein potenzielles Ziel für die einzige Person war, die er zu fürchten hatte: den internen Revisor der Bank. Alle guten Banker, die sie kannte, hatten es sich zur Ersatzreligion gemacht, sich gründlich abzusichern, unabhängig von Umfang und Art eines Geschäfts. Den Bankvorschriften zu folgen, war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Demnach würde Bates sie trotz der Einladung zum Essen nicht anders behandeln als jeden anderen Kunden. Es war an ihr, dafür zu sorgen, dass er alles bekam, was er brauchte, falls der Revisor anklopfte. Ihrer Meinung nach war ihr das bisher gelungen.
Er hatte eine E-Mail von Seto, in welcher der ihm mitteilte, dass er eine Überweisung tätigen musste, und in der er Ava als vertrauenswürdige Geschäftspartnerin vorstellte. Er hatte Ava kennengelernt, bei der es sich allem Anschein nach um die Person handelte, die Seto beschrieben hatte. Wegen der Zeitverschiebung hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, bei der Buchhalterfirma in Hongkong anzurufen, aber so, wie er ihre Visitenkarte und sie selbst angesehen hatte, würde er es auch nicht tun. Er hatte alle Originale von Setos Identitätsnachweisen gesehen, die zu denen in seinen Unterlagen passten. Jetzt würde er die gegengezeichneten Originale des Überweisungsantrags sowie die datierten, unterschriebenen Kopien der Ausweise erhalten. Alles in allem eine Dokumentation, die jeden Revisor zufriedenstellen musste.
Blieb noch die Tatsache, dass Bates Seto treffen und persönlich Zeuge sein musste, wie er die nötigen Unterschriften leistete. Das war die Lücke in der Sorgfaltspflicht, die Bates Probleme bereiten konnte, wenn er die Situation später erklären musste. Aber das wäre eben erst später; rückblickend wäre es leichter, die tatsächlichen Ereignisse dem anzupassen, was hätte sein sollen. Und selbst dann konnte er noch in aller Ehrlichkeit angeben, dass er Seto mit eigenen Augen gesehen hatte. Für dessen Bewusstlosigkeit gab es eine Erklärung: Seto war krank. Bates hatte sich sogar die Mühe gemacht, ins Appartement zu kommen, um ihn zu besuchen. Man konnte ihn schwerlich dafür verantwortlich machen, das Seto zu dem Zeitpunkt geschlafen hatte. Bates hatte der gebührenden
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