Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
keine Ahnung, wer diese Methode erfunden hatte, doch sie wusste, sie kam in jeder Branche zum Einsatz, die mit Proteinen zu tun hatte – einschließlich der Rindund Hühnerfleischproduktion. Bei Shrimps funktionierte das vergleichsweise problemlos: Man musste sie lediglich in einem Konservierungsmittel tränken, normalerweise Tripolyphosphat. Je länger man die Shrimps darin beließ und je hochprozentiger die Lösung, desto mehr erhöhte sich – auf künstliche Art – ihr Gewicht.
Doch die wirtschaftlichen Konsequenzen waren noch weitreichender. Shrimps wurden auch nach Größe bezahlt: Je größer, desto höher der Preis. Wenn 31 bis 40 Shrimps ein Pfund ergaben, kosteten sie mehr als kleinere Shrimps, die auf 41 bis 50 Stück pro Pfund kamen. Wenn Seafood Partners mit Konservierungsmitteln das Gewicht manipulierte, um die Menge der Shrimps von 41–50 Stück pro Pfund auf 31–40 Stück pro Pfund zu drücken, konnte die Firma mehr Geld pro Pfund herausschlagen.
Und welche der Methoden hatte Seafood Partners gewählt? Ava traute ihren Augen kaum: alle drei! Schon eine einzige war riskant, zwei unverfroren, aber alle drei? Reiner Wahnsinn – oder nackte Verzweiflung.
Major Supermarkets war Seafood Partners natürlich auf die Schliche gekommen. Genauer gesagt hatte die U.S. Food and Drug Administration, eine amerikanische Lebensmittelüberwachungsbehörde, bei einer Stichprobenkontrolle die Gewichtsdiskrepanz bemerkt. Sie übergab das Problem der innerbetrieblichen Qualitätskontrolle von Major Supermarkets, die Nachforschungen anstellte und den Betrug ans Licht brachte. Es war genau die Ausrede, die der Käufer brauchte, um aus dem Zwölfmonatsvertrag auszusteigen. Nur einen Tag nachdem die Ergebnisse bekannt geworden waren, wurde Seafood Partners mitgeteilt, dass ihr Produkt ausgelistet sei. Die Ware, die sich bereits im Handel befand, müsse abgeholt werden, die Rahmenvereinbarung sei null und nichtig, die Ware in den USA und auf dem Weg dorthin sei von nun an ihr Problem, und keine der ausstehenden Rechnungen werde bezahlt.
Seafood Partners informierte Dynamic Financial Services nicht über das Fiasko. Bei Dynamic erfuhr man erst davon, als man sich bei Major Supermarkets telefonisch nach den unbezahlten Rechnungen erkundigte. In der Zwischenzeit hatte Seafood Partners die verbleibende Ware abholen lassen. Mehr als eine Million Pfund Shrimps waren wie vom Erdboden verschluckt. Hinzu kamen fast eine Million Dollar an unbezahlten Rechnungen: Der Gesamtschaden für Dynamic Financial Services belief sich somit auf mindestens fünf Millionen Dollar.
Andrew Tam hatte die Materialien übersichtlich geordnet. Es gab Kopien des Finanzierungsvertrags, der Rahmenvereinbarung, der von Dynamic ausgestellten Akkreditive und der Bestellungen von Major Supermarkets. Er hatte auch die Berichte der FDA -Inspektion und der Qualitätskontrolle von Major Supermarkets beigefügt und war offenbar irgendwie in den Besitz einer Reihe von E-Mails gelangt, in denen Seafood Partners dem Verpacker unverblümt mitteilte, was sie von ihm erwarteten.
Frage sechs: Hat sich Tam mit dem Verpacker in Verbindung gesetzt? Haftet er?
Ava sah auf die Uhr: In Hongkong war es jetzt vier Uhr morgens. Sie wählte Tams Handynummer. Zu ihrer Überraschung nahm er ab. »Ich hatte gehofft, dass Sie anrufen«, sagte er.
»Ich bin jetzt mit der Durchsicht der Papiere fertig. Was für ein Schlamassel.«
Tam schwieg, und Ava fragte sich, ob sie ihm zu nahe getreten war, doch er entgegnete: »Wem sagen Sie das.«
Sie warf einen Blick auf ihre Notizen. »Ich sehe zwei Unterschriften von Seafood Partners auf dem Finanzierungsvertrag. Wie viele Partner gibt es?«
»Nur die beiden: George Antonelli und Jackson Seto. Antonelli lebt in Bangkok. Er kümmert sich um die Produktion und die technischen Details.«
»Wie Gewichtsbetrug?«
»Vermutlich. Seto pendelt zwischen Seattle und Hongkong. Anscheinend hat er in beiden Städten Wohnsitze. Er ist der Marketingexperte, der Mann mit dem Geld.«
»Ich vermute, Sie haben das Problem mit den beiden besprochen?«
»Ich habe es versucht.«
»Und?«
»Anfangs wollten sie es dem Einkäufer von Major Supermarkets in die Schuhe schieben, der sie angeblich nur loswerden wollte, um billigere Ware kaufen zu können. Aber nachdem ich die Berichte der FDA und der Qualitätskontrolle von Major Supermarkets bekommen hatte, änderten sie die Taktik und behaupteten, der Verpacker sei schuld, er hätte bei den
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