Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
kontrollierte, aber es wäre dumm, das Risiko einzugehen. Das Messer versteckte sie unter ihrer Matratze.
Ihren Hongkonger Ausweis und die anderen Identitätsnachweise steckte sie in die Gesäßtasche ihrer Adidas-Hose, die sie mit Klettband verschloss. Das Geld, das sie für das Boot, Taxis und Essen auf der Reise brauchen würde, stopfte sie in die vordere Hosentasche.
Gegen halb zehn war sie abreisebereit und sah keinen Grund, noch länger im Appartement zu bleiben. Sie ließ das Gepäck an der Tür stehen und stattete Seto einen Besuch ab.
Er war wach und blinzelte hin und wieder, eine Nachwirkung der Droge. Sie stützte ihn, damit er sich aufsetzen konnte. Er bedeutete ihr, das Klebeband von seinem Mund zu entfernen. »Nein, das geht nicht«, sagte sie. Wieder wirkte er panisch.
»Hören Sie gut zu«, sagte sie. »Ich muss eine Weile fortgehen. Der große Typ – Meister Proper – ist im Nebenzimmer, also würde ich an Ihrer Stelle nicht zu viel Lärm machen. Nicken Sie, wenn Sie mich verstanden haben.«
Er nickte.
»Morgen ist alles vorbei. Dann reisen Meister Proper und ich ab. Wir rufen das Personal an, sobald wir weg sind, und sagen denen, wo sie Sie finden. Bis dahin benehmen Sie sich.«
Er nickte.
»Der letzte und vielleicht wichtigste Punkt ist, dass Sie Andrew Tam, mich und die ganze Sache vergessen müssen. Das alles ist nie passiert. Ein Wort, und wir finden Sie und stellen Sie kalt. Glauben Sie mir?«
Wieder nickte er.
Ava tätschelte ihm die Wange. »Und wenn ich Sie wäre, würde ich mir einen anderen Job suchen. Es gibt schon genug schmierige Fischhändler, ohne dass Sie oder Ihr fetter, perverser Freund die Finger im Spiel haben.«
Als sie das Appartement verließ, warf sie einen letzten Blick auf Robbins. Er lag immer noch reglos da. Sie überlegte, ihn in sein Schlafzimmer zu verfrachten, wusste aber nicht, ob ihre Kraft ausreichen würde, und was machte es schon für einen Unterschied, wo man ihn fand? Von der Tür aus konnte sie nicht erkennen, ob er noch atmete. War er tot? Auf Zehenspitzen schlich sie zu ihm und nahm sein Handgelenk. Sein Puls ging schnell, vielleicht zu schnell, aber das war nicht mehr ihr Problem.
Unten in der Lobby saß Doreen an der Rezeption. »Ich reise heute nach San Juan ab«, sagte Ava. »Meine Begleiter bleiben noch. Sie brauchen bis morgen keinen Zimmerservice. Könnten Sie das bitte notieren?«
»Das wären schon drei Tage.«
»Tja, sie tun alles für die Umwelt«, sagte Ava.
Im Charterbüro bezahlte sie den Mann in bar, zeigte ihm ihren Ausweis, und um fünf vor zehn befand sie sich an Bord einer Bavaria 35, die aufs offene Meer hinausfuhr. Sie schaute zum Guilford-Appartementkomplex zurück, während das Boot den Hafen verließ, und fühlte mit dem Zimmermädchen, das am nächsten Morgen über Robbins und Seto stolpern würde. Hoffentlich würde es sie nicht allzu sehr mitnehmen.
Road Town schrumpfte mit wachsender Entfernung. Es war ein hübsches Städtchen, die weißverputzten Häuser schmiegten sich an die grünen Berghänge, die den tiefblauen Hafen umgaben. Sie bezweifelte, dass sie sie je wiedersehen würde. Alte Einsatzorte wieder aufzusuchen, war selten eine gute Idee.
Sobald Road Town nur mehr ein Punkt am Horizont war, ging Ava nach unten in die Kabine und begab sich erst wieder an Deck, als das Boot anderthalb Stunden später langsamer wurde, um zuzuschauen, wie sie in den Hafen von St. Thomas einfuhren.
Der US -Zollbeamte warf nur einen flüchtigen Blick auf ihren Ausweis. Vom Pier aus nahm sie ein Taxi nach Charlotte Amalie und bestieg um Viertel nach zwei den American-Airlines-Flug Nummer 672. Um sechs aß sie eine Schale Gumbo-Eintopf im International Airport von Miami.
Sie wartete bis sieben, um Onkel anzurufen. Er war schon wach, und Lourdes, eine Philippinin, die ihm seit mehr als dreißig Jahren den Haushalt führte, fragte im Hintergrund, ob er noch eine Tasse Tee wünsche. »Ich bin in Miami«, sagte sie. »Um Mitternacht komme ich in Toronto an.«
»Gott sei Dank, bist du weg von diesem Ort. Ich habe gar nicht gut geschlafen.«
»Wie gesagt, du brauchtest dir keine Sorgen zu machen.«
»Tommy Ordonez und du, ihr habt mir zwei schwere Tage beschert.«
»Erzähl mir nichts von Tommy Ordonez«, entgegnete sie. »Ich bin noch nicht zu Hause und muss erst mal ankommen und mich ein paar Tage ausruhen, bis ich dafür bereit bin.«
»Also gut«, sagte er deutlich widerstrebend, doch er wusste, wie abergläubisch sie sein
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