Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
Zwischenstation?«, fragte ihre Mutter.
»Ja.«
»Wirst du deinen Vater anrufen?«
»Nein.«
Ihre Mutter klang enttäuscht. »Also besuchst du nur Onkel?«
»Mum, ich bin bloß auf der Durchreise in Hongkong. Wahrscheinlich besuche ich niemanden.«
Ava reiste mit leichtem Gepäck. In weniger als einer halben Stunde hatte sie den Koffer von Louis Vuitton und die »Double Happiness«-Tasche von Shanghai Tang fertig gepackt. In den Koffer kamen ihre Businessoutfits: schwarze Leinenhosen, ein Bleistiftrock, schwarze Lederpumps von Cole Hahn, zwei Paar schwarze BHs und Höschen, drei Brooks-Brothers-Blusen in Hellblau, Rosa und Weiß – eine mit Button-down-Kragen, die beiden anderen mit einer Art italienischem Kragen und alle mit Doppelmanschette. Sie wählte ein schmales Schmucketui aus, in dem sie ihre Cartier-Tank-Française-Uhr, ein paar Jade-Manschettenknöpfe und eine schlichte Goldkette mit Kreuz deponierte. Dann durchsuchte sie den Lederbeutel, in dem sie ihre Spangen, Haarnadeln, Haarreifen und Kämme aufbewahrte, entnahm ihm eine gegabelte Haarnadel aus Elfenbein, eines ihrer Lieblingsstücke, und legte sie ebenfalls in das Lederetui. Sie trug das Haar fast immer hochgesteckt und schmückte es gerne, und nichts war dafür besser geeignet als die Haarnadel.
Auch ihr Kulturbeutel war fertig gepackt: Zahnbürste, Zahnpasta, Haarbürste, Deo, Shampoo und Parfüm von Annick Goutal, ein Lippenstift und Wimperntusche. Das Shampoo hatte sie gemäß den Vorschriften für Flughafensicherheit in ein Hundert-Milliliter-Fläschchen gefüllt. Insgesamt vier solcher Fläschchen hatte sie vorschriftsmäßig in einer durchsichtigen Plastiktüte verpackt. Nur eines davon enthielt Shampoo, die drei anderen Chloralhydrat.
In die Shanghai-Tang-Tasche kamen diverse andere Dinge: ein Moleskin-Notizbuch, zwei Füllfederhalter, ihr Laptop, Joggingschuhe, Shorts, ein Sport- BH , Socken, drei Giordano-T-Shirts, eine Handtasche von Chanel für Geschäftstreffen und zwei Rollen Klebeband. Zum Schluss ging Ava in die Küche, nahm alle verbliebenen Tütchen mit Starbucks-Instantkaffee aus der Dose und packte sie ebenfalls in die Tasche.
Um acht rief sie Onkel an.
» Wei «, meldete er sich.
»Ich habe das Geld lokalisiert«, sagte sie.
»Und die Shrimps?«
»Die sind schon verkauft. Aber ich weiß, wo das Geld ist.«
»Wie viel?«
»Knapp fünf Millionen.«
»Und wo ist es?«
»Auf den British Virgin Islands.«
»Keine große Überraschung. Da hat halb Hongkong seine Konten.«
»Morgen fliege ich nach Seattle und schaue, ob ich Jackson Seto finden und überreden kann, Andrew Tam das Geld zurückzuzahlen.«
»Was glaubst du?«
»Noch nichts. Ich komme morgen gegen elf dort an. Sowohl sein Büro als auch sein angeblicher Wohnsitz liegen in der Innenstadt, nur ein paar Blocks voneinander entfernt. Wer weiß, vielleicht habe ich Glück.«
»Und was, wenn nicht?«
»Für morgen Abend habe ich bei Cathay Pacific einen Flug nach Hongkong gebucht.«
»Bleibst du länger?«
»Ein paar Tage. Ich will Setos Hongkonger Wohnsitz in Wanchai überprüfen und könnte mich mit Tam treffen. Außerdem will ich mit dem Mann reden, der Seto mit Dynamic Financial Services zusammengebracht hat.«
»Halte mich auf dem Laufenden, wie du in Seattle vorankommst. Du kannst mich jederzeit anrufen. In welchem Hotel willst du hier absteigen?«
»Im Mandarin Oriental.«
»Ich reserviere dir ein Zimmer, nur für den Fall.«
»Danke, Onkel.«
»Und ich hole dich am Flughafen ab.«
»Das ist nicht nötig.«
»Ich weiß, ich möchte es aber.«
Ava schlief meist wie ein Murmeltier. Bak Mei diente ihr als Einschlafhilfe: In ihrer Fantasie malte sie sich wieder und wieder in Zeitlupe die Bewegungsformen aus. An diesem Abend war etwas anders. Sie stellte sich die Grundform »Panther« vor, doch diesmal hatte sie einen Gegner: einen großen, hageren Chinesen mit dünnem Schnurrbart und fünf Millionen Dollar auf einem British-Virgin-Islands-Konto.
5
S eattle erwies sich als Sackgasse: Das Büro war leer und verschlossen, und das Appartement hatte Seto schon vor einem Monat aufgegeben.
Vier Stunden vor ihrem Flug nach Hongkong war Ava wieder am Sea-Tac-Flughafen und nutzte die Zeit für eine Ganzkörpermassage in der Businesslounge von Cathay Pacific. Kurz bevor sie an Bord ging, rief sie Onkel an. Erneut bestand er darauf, sie am Flughafen abzuholen, und wieder sagte sie ihm, das sei nicht nötig. Sie wusste, wie sehr ihm der neue Hong Kong
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