Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
International Airport Chek Lap Kok zuwider war. Er wohnte in Kowloon, mit dem Auto knapp zehn Minuten vom alten, inzwischen geschlossenen Flughafen Kai Tak entfernt.
Kai Tak war ein Ort voller Dramatik gewesen, denn die Flugzeuge, die Hongkong ansteuerten, mussten gefährlich nahe zwischen Bergen und Wolkenkratzern hindurch und über die Bucht von Kowloon hinweg fliegen, wobei die Spitzen ihrer Tragflächen fast die Wäscheleinen auf den Balkonen der Wohngebäude streiften, die den Flughafen umringten. Anschließend hatten sich die Passagiere auf eine Busfahrt von der Landebahn zum ramponierten, alten, für den Flugbetrieb der 50er-Jahre konzipierten Terminal und auf lange Schlangen vor der Zollabfertigung einzustellen, bevor sie die winzige, enge Ankunftshalle betraten, wo sich hunderte, vielleicht tausende Menschen am Rand der Gangway drängten und die Neuankömmlinge winkend und rufend willkommen hießen.
Ava empfand nicht dieselbe Nostalgie für Kai Tak wie Onkel. Die Ankunftshalle des neuen Flughafens Chek Lap Kok mochte riesig und steril sein und die Menschen unter seinem schwindelerregend hohen Dach wie wimmelnde Ameisen wirken lassen, doch seine kompromisslose Effizienz machte die atmosphärischen Mängel wieder wett.
»Ich warte im Kit Kat Koffee House auf dich«, hielt Onkel abschließend fest.
Die Business Class war nicht einmal zur Hälfte besetzt, und der Fensterplatz neben Ava blieb frei. Das war gut; sie war nicht der Typ für oberflächliche Gespräche mit Fremden, und jetzt musste sie sich keine Vermeidungsstrategien ausdenken.
Der Flug würde dreizehn Stunden dauern, verließ Seattle um 19 Uhr, überflog die Datumsgrenze und kam am folgenden Morgen in Hongkong an. Das mochte Ava nicht, denn es bedeutete unweigerlich Jetlag. Das einzige Mittel dagegen war, während des gesamten Flugs wach zu bleiben, und das wollte ihr einfach nicht gelingen. Aus unerfindlichen Gründen fielen ihr immer die Augen zu, sobald die Räder vom Rollfeld abhoben. Bei einem einstündigen Flug nach New York mitten am Tag schaffte sie es, eine Dreiviertelstunde zu verschlafen. Während eines siebzehnstündigen Flugs von Toronto nach Hongkong hatte sie einmal fünfzehn Stunden durchgeschlafen.
Auf dem Flug von Seattle nach Hongkong war es nicht ganz so extrem. Ava blieb lange genug wach, um etwas zu essen und einen Hongkong-Actionfilm mit Tony Leung und Andy Lau anschauen zu können. Dann schlief sie durch, bis die Flugbegleiterin sie zwei Stunden vor der Ankunft weckte, um ihr das Frühstück zu servieren.
Schon zwanzig Minuten nach der Landung hatte Ava die Grenzkontrolle, die Gepäckausgabe und den Zoll hinter sich. Sie entdeckte Onkel ganz hinten im Kit Kat Koffee House, einem schlichten Café mit runden Glastischen, Metallstühlen und Postern von Kaffeebohnen an den Wänden. Er hatte eine chinesische Tageszeitung aufgeschlagen vor sich auf dem Tisch liegen und eine nicht angezündete Zigarette im Mundwinkel. Selbst in Hongkong gab es Orte, wo Rauchen verboten war.
Er war nur wenig größer als Ava, dünn und stets gleich gekleidet: schwarze Schnürschuhe, schwarze Hose und ein weißes, langärmeliges, bis zum Hals zugeknöpftes Hemd, was teils Bequemlichkeit, teils Tarnung war. Dadurch wirkte er unauffällig – wie ein langweiliger alter Mann, an den man keinen zweiten Blick verschwendete – es sei denn, man wusste über ihn Bescheid.
Sie schätzte Onkel auf siebzig bis achtzig, näher ließ sich sein Alter nicht eingrenzen. Viele, die ihn kennenlernten, hielten ihn für jünger, und das nicht aus reiner Höflichkeit. Er hatte ein Gesicht mit feinen Zügen, einer kleinen, geraden Nase und einem ausgeprägten, fast spitzen Kinn. Seine Haut war noch straff, nur um seine Augen und auf der Stirn zeigten sich haarfeine Fältchen. Die kurzgeschorenen Haare waren bis auf wenige graue Strähnen noch tiefschwarz.
»Onkel«, rief sie.
Er sah von der Zeitung auf, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er hatte schokoladenbraune Augen mit pechschwarzen Pupillen, und das Weiße schien immun gegen die Auswirkungen von Schlafmangel oder zu viel Alkohol. Es waren alterslose Augen, lebhaft, forschend und neugierig. Ava hatte schnell gelernt, dass sich in ihnen Onkels Seelenleben spiegelte und nicht in seinen Worten. Sie konnten warmherzig blicken, misstrauisch, verächtlich, bewundernd, bohrend oder erbarmungslos. Ava verstand es, die subtilsten Regungen darin zu deuten, wobei sich die dunkelsten nie gegen
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