Die Weimarer Republik
waren, verweigerte der Reichstag die Verlängerung des Ermächtigungsgesetzes und erzwang so Neuwahlen. Obwohl die KPD ihre Mandate durch den Übertritt von 17 Abgeordneten der linken USPD mehr als verdreifachte (12,5 %), erbrachte das Wahlergebnis einen markanten Rechtsruck. Die SPD erlitt eine vernichtende Niederlage und sank, obwohl der rechte Flügel der USPD zu ihrzurückgekehrt war, von 171 auf 100 Mandate (23,9 %). Die rechtsliberale DVP (9,2 %) gehörte ebenso zu den Wahlverlierern wie die linksliberale DDP (5,3 %). Das Zentrum kam als einzige der bisherigen Regierungsparteien ungeschoren davon (13,3 %). Die DNVP wurde stärkste Fraktion mit 105 Sitzen (20,3 %). Die rechtsradikalen Gruppierungen, die sich in der Deutsch-völkischen Freiheitspartei, einer Auffangorganisation für die verbotene NSDAP, gesammelt hatten, erreichten 6,5 %.
Die Abkehr von den bisherigen Regierungsparteien – der Weimarer wie der Großen Koalition – war ein Misstrauensvotum gegenüber deren Problemlösungskompetenz. Dennoch trug das Wählervotum zur Stabilisierung bei, weil die DNVP zur Mitarbeit in dem abgelehnten parlamentarischen System gezwungen wurde. Die hinter ihr stehende Großlandwirtschaft hatte erkannt, dass sie ihre Interessen nur in der Regierung verwirklichen konnte. Das war eine Kooperation unter Vorbehalt, solange sie von ihrer Schlüsselrolle profitierte. Aber es ermöglichte bis 1928 in verschiedenen Variationen den «Bürgerblock» von DDP, DVP, Zentrum, BVP und DNVP, teils mit Beteiligung der Letzteren, zumeist aber durch deren Tolerierung. Die Basis des Bürgerblocks war vor allem eine innenpolitische. In der Außenpolitik ersetzte die SPD die DNVP als Mehrheitsbeschaffer, sodass parlamentarisch faktisch zwei Koalitionen bestanden. Diese eigenwillige Konstellation führte die wichtigsten staatstragenden Kräfte zusammen, oberhalb des Parlaments zwar, aber doch im Rahmen der Verfassung: den Reichspräsidenten (und damit die SPD), die bürgerliche Mitte und die Reichswehr. Weder die SPD noch die DNVP und schon gar nicht beide zugleich waren an den Koalitionskern fest anzubinden. Es war keine Konstellation erkennbar, die Stabilität und Kontinuität in die Regierungsarbeit gebracht hätte.
Dennoch war diese informelle «ganz große» Koalition imstande, außenpolitisch die Weichen in Richtung Dawes-Plan und Locarno zu stellen und innenpolitisch die drängendsten Fragen der Sozialpolitik zu lösen – Letztere aber nicht im Parlament. Die Maßnahmen mussten durch Ermächtigungsgesetz verordnet werden, obwohl – wie die Dauerhaftigkeit der Regelungenzeigt – die Einsicht in deren Notwendigkeit vorhanden war. Es war das eigentliche Krisensymptom, dass keine der beteiligten Gruppierungen diese Maßnahmen durch parlamentarischen Kompromiss mittragen wollte, sondern auf eine Lösung durch Oktroi des Reichspräsidenten vertraute. Ebert unterzeichnete 136 Notverordnungen, Hindenburg 109. Diese Flucht der Parteien aus der Verantwortung verhieß für Krisenzeiten nichts Gutes. Sie waren nicht bereit und auch nicht in der Lage, durch Kompromiss für ihre Klientel nachteilige Entscheidungen mitzutragen. Häufige Regierungskrisen und neue Koalitionsverhandlungen waren die Folge. Das war nicht allein Resultat der im konstitutionellen System der Kaiserzeit erlernten Verhaltensweisen. Es war auch Ausdruck der klassen- und interessenpolitischen Spaltung der Gesellschaft in «oben» und «unten», in Industrie und Landwirtschaft. Diese Konfliktlinien waren im Kaiserreich politisch überdeckt worden: durch Repression der Arbeiterschaft einerseits, durch Bevorzugung der Landwirtschaft andererseits. Ein parlamentarisches System vermag klassenkämpferische Verweigerung der wichtigsten sozialen Großgruppen auf Dauer nicht auszugleichen – zumal in der Situation eines anhaltenden Patts zwischen den «Lagern». Erschwerend kam hinzu, dass die Republik nicht nur in politische «Lager» gespalten war, sondern auch innerhalb derselben ein tiefer Riss bestand. Dabei reichte der in der Arbeiterbewegung noch tiefer als der im bürgerlich-nationalen Lager zwischen Industrie und Landwirtschaft, zwischen Industrie und Mittelstand, zwischen Großagrariern und Bauern.
In dieser Situation kam der Person des Reichspräsidenten ausschlaggebende Bedeutung zu. Hier änderte sich 1925 Entscheidendes: Ebert starb. Es war symbolträchtig, dass er wegen eines Prozesses aufgrund seiner Rolle in den Januarstreiks 1918 eine Blinddarmoperation
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