Die Weimarer Republik
Krieges nicht kompensieren können; sie verfügte weder über das Kapital noch, aufgrund der Denkweise der übergroßen Zahl ihrer Akteure, den Willen, sichden veränderten Bedingungen anzupassen. Die Jahre der Prosperität waren für sie eine Zeit der Depression. In fast keinem Jahr wurde die Vorkriegsproduktion erreicht. Das Pro-Kopf-Einkommen steigerte sich kaum, im Gegensatz zum allgemeinen Pro-Kopf-Einkommen, sodass sich die Differenz zwischen beiden verdoppelte (auf 44 %). Aber noch war die Landwirtschaft mächtig: politisch durch die Präsenz ihrer Angehörigen in den politischen und administrativen Eliten und durch ein stabiles Wählerpotential, kulturell infolge des Überhanges agrarischer Leitbilder und Werte, ökonomisch infolge der relativen volkswirtschaftlichen Verarmung durch Krieg und Friedensvertrag. Sie wurde gebraucht zur weitgehenden Selbstversorgung des Reiches mit Lebensmitteln, als Bollwerk gegen die städtischen Unterschichten, als Auffangbecken für die industrielle Arbeitslosigkeit, als konservatives Gegengewicht gegen urbane Dekadenz und Beliebigkeit.
Die schon um 1900 geführte Debatte, ob Deutschland ein Agrar- oder Industriestaat sei, lebte wieder auf. Die Agrarier beanspruchten die Gleichrangigkeit, waren aber jetzt aus ihrer Vetoposition verdrängt, die sie vor allem über Adelskammern und monarchische Protektion besessen hatten. Zudem konnte die adelsdominierte Großlandwirtschaft immer weniger auf die Gefolgschaft der Bauern rechnen, die sich politisch mit eigenen Bauernbünden emanzipierte. Ihr kam entgegen, dass die Industrie in sich ökonomisch und politisch gespalten war, sodass quer zu der ökonomischen Front das politische Bündnis von Großlandwirtschaft und Schwerindustrie fortbestand, das sich gegen die Linke lange vor 1914 gefunden und sich im Interesse des Machterhalts die wechselseitige Koexistenz zugesichert hatte. Aber dieses Bündnis hatte an Macht und Geschlossenheit verloren; dazu waren die wirtschaftlichen Interessen zu gegensätzlich. Zwischen diesen Blöcken sah sich der Mittelstand zerrieben. Doch trotz des anhaltenden Bedeutungsverlustes konnte sich das Handwerk behaupten, als Reparatur- und Installationsgewerbe vom Strukturwandel sogar profitieren, in der Elektro- oder Automobilbranche Fortschritte erzielen. Das zeigt die Zunahme der Beschäftigtenzahl, ebenso die Steigerung des Umsatzesum über die Hälfte 1924–1928. In der Masse der Betriebe blieb das Einkommen jedoch unter dem eines Facharbeiters. Not leidend blieb ein großer Teil des Klein- und Einzelhandels, dem neben den Konsumgenossenschaften der Arbeiter nun auch Warenhäuser und Versandhandel zusetzten.
Neu waren die seit dem Krieg und der Demobilmachung gesteigerten Interventionen des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft. Anfangs noch als Notmaßnahmen betrachtet und daher in begrenztem Maße betrieben, waren sie deutlich intensiver geworden und hatten sich zunehmend verstetigt. Diese gewachsene Bedeutung des Staates bildete den Kern der Konflikte: ob Wohlfahrts- oder Klassenstaat, ob Bürgerblock- oder «Gewerkschaftsstaat». Staats- und Steuerquote spiegeln Umverteilungsentscheidungen zwischen sozialen Gruppen, volkswirtschaftlichen Sektoren, Produzenten und Konsumenten. Der Anteil der Staatsausgaben am Volkseinkommen war 1913–1925/26 von 15 auf 25 % gewachsen. Entsprechend stieg der Anteil des Staatseinkommens am Volkseinkommen von 9 % 1913 über 18 % 1929 auf 23 % 1932. Steuern und Sozialabgaben betrugen 1925–1929 zusammen 22–25 % des Volkseinkommens. Diese Werte erreichten auch in England und Frankreich eine vergleichbare Größenordnung.
Doch die Verteilungsspielräume waren begrenzt. Denn gemessen an der Weltproduktion, blieb die deutsche Volkswirtschaft trotz absoluten Wachstums relativ zurück, auch wenn das Reich 1925/26 hinter den USA weiter den zweiten Platz einnahm. Die Industrieproduktion wuchs langsamer als vor 1914. Die Rationalisierung zwischen 1925 und 1928 schuf durch ihren Produktivitätsfortschritt Überkapazitäten und führte z.B. im Kohlebergbau zum massiven Abbau der Belegschaften. Die Rentabilitätslücke wurde vom Staat durch Subventionen geschlossen sowie durch Kartellisierung und hohe Preise aufgefangen. Auch der Export erreichte die Vorkriegswerte nicht mehr; Überschüsse wurden nur 1926 erzielt. Gleiches galt für die Leistungsbilanz, nicht zuletzt infolge der Reparationen. Die hohe Sockelarbeitslosigkeit, die Unsicherheit des Arbeitsplatzes, die
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