Die Weimarer Republik
Mitte-Rechts-Parteien der Republik die Tolerierung aufzukündigen begannen, um sie nicht der Linken überlassen zu müssen. Die DNVP wählte 1928 mit Alfred Hugenberg einen Radikalnationalisten an die Spitze, der die Partei auf einen systemfeindlichen Kurs führte und beim Volksbegehren gegen den Young-Plan,der die Reparationszahlungen neu regelte, mit der NSDAP kooperierte. Darüber zerbrachen Partei und Fraktion. Im Zentrum übernahm mit dem Prälaten Ludwig Kaas ein Vertreter des rechten Flügels die Parteiführung. Damit trat der arbeitnehmerorientierte Flügel des Sozialkatholizismus in den Hintergrund, dessen Leitfigur Reichsarbeitsminister Brauns gewesen war. Als Stresemann 1929 starb, verlor die DVP ihren Hauptprotagonisten der Großen Koalition. Die Republik scheiterte jedoch nicht an diesen personellen Konstellationen, auch nicht am Verhältniswahlrecht. Das spiegelte nur die Des- und Neuorientierung der Wähler wider, war aber nicht die Ursache der Parteienzersplitterung, auch wenn es sie erleichterte.
Die relativ gute Konjunktur begünstigte die industriellen Sozialgruppen, sie verschlechterte aber die Lage der Agrarier wie der Inflationsgeschädigten weiter und vergrößerte den Abstand in Einkommen, Lage und Perspektive. Die anhaltenden Verteilungskämpfe führten zur Bildung neuer Parteien, die einen begrenzten Zweck verfolgten: etwa die der Hausbesitzer oder der «Aufwertungsgeschädigten», die eine höhere Aufwertung der Sparguthaben forderten als in der Währungsreform vorgesehen. Mit der Pluralisierung der Interessenlandschaft zerfiel gerade die bürgerlich-republikanische Mitte in klassenhermetische, d.h. politisch nach links bzw. sozial nach unten nicht koalitionswillige, zugleich in sich nicht lebensfähige Gruppierungen. Die Mittelstandsbewegungen vermochten aufgrund programmatischer wie organisatorischer Defizite keine ausreichenden Angebote zu machen. Sie wurden zu Durchgangsstationen zum rechten Flügel. Das erleichterte den Aufstieg der NSDAP als Volkspartei, wie deren Erfolge bei den Kommunal- und Landtagswahlen Ende 1929 zeigten, noch ehe die Tragweite der Weltwirtschaftskrise voll erkennbar war. Die SPD als klassengebundene Arbeiterpartei blieb für mittelständische und agrarische Wähler nicht akzeptabel, und als milieugestützte Klassenpartei konnte und wollte sie aufgrund der Konkurrenz der KPD eine Öffnung zur Mitte nicht riskieren. Eine vergleichbare Zersplitterung des Parteiensystems nach sozialen, ökonomischen und kulturellen Trennlinien, schwache und häufig wechselndeKoalitionsregierungen, blockierte Parlamente und das Regieren durch Ermächtigungsgesetze oder Notverordnungen kannten fast alle Staaten Europas. Die Verwerfungen in den sich auflösenden oder neu ordnenden Klassengesellschaften ließen lagerübergreifende Bündnisse und Koalitionen nicht oder nur in einzelnen Ausnahmen zu. Zumal angesichts der hohen sozialen Begleitkosten war nicht zu erwarten, dass der krisenhafte Wandel von der agrarisch-monarchischen Ordnung zur industriellparlamentarischen akzeptiert und im Konsens bewältigt wurde.
2. Die Organisation des Industriestaates
Nach den Jahren von Kriegswirtschaft, Inflation und Handelsdiskriminierung kehrte die Republik auch wirtschaftlich nach fünf Jahren zur «Normalität» zurück: 1928/29 erreichte das Volkseinkommen wieder den Vorkriegsstand. Doch dahinter verbargen sich deutliche Verschiebungen: zwischen den Sektoren der Volkswirtschaft sowie innerhalb derselben, in der Vermögens- und Einkommensverteilung, im Arbeitskräftepotenzial, in den wirtschaftspolitischen Präferenzen. Volkswirtschaftlich war die Republik ein Industriestaat: moderner, bürgerlicher – aber nicht in ihrer politischen Kultur. Die Industrie hatte nach ihrer Wertschöpfung die Landwirtschaft um 1880 überholt, nach der Zahl der Beschäftigten um 1895. Nach dem Krieg wuchs der Anteil von Industrie und Gewerbe am Volkseinkommen nicht weiter, er lag 1925 bei 48 % und 1933 bei 42 %. Der Anteil der Landwirtschaft betrug 1925 nur noch 16 %. Der Dienstleistungssektor steigerte seinen Anteil am Volkseinkommen auf 38 % 1933; zu dem Zeitpunkt hatte er nach Erwerbspersonen mit 28,9 % die Landwirtschaft eingeholt. Deren Anteil an den Beschäftigten ging 1882–1933 von 43 auf 29 % zurück; Industrie und Handwerk lagen um 40 %.
Die Landwirtschaft in das neue Modell einer Industriegesellschaft zu integrieren erwies sich als schwierig. Ökonomisch hatte sie die Substanzverluste des
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