Die Weimarer Republik
Rentiers orientierten sich neu. In dem Maße, in dem die revolutionäre Bedrohung durch die Arbeiterschaft nachließ, traten die zentrifugalen Tendenzen in der bürgerlich-republikanischen Mitte stärker hervor. Sie verlor bei den Reichstagswahlen 1928 deutlich. Ebenso zerfiel das insgesamt gestärkte konservativ-nationalistische Lager, indem die Bauern wie der alte und neue Mittelstand eigene Parteien und Verbände ins Leben riefen. Die Zersplitterung der Parteien in den Jahren der relativen Stabilität ließ erkennen, wie sehr sich die Gesellschaft im Umbruch befand und neu orientierte. Koalitionen, die Großindustrie undGroßlandwirtschaft zusammenbanden, fanden ebenso wenig zu einem stabilen Konsens wie die Große Koalition 1928, die Arbeitgeber und Gewerkschaften vereinte.
Das Abflauen der teils bürgerkriegsähnlichen sozialen Kämpfe nach 1923/24 war kein Ausdruck von Stabilität. Die ideologische Militanz blieb. Das demonstrierten allein die symbolhaften Kämpfe, in denen sich die bis zum Hass gesteigerte Unversöhnlichkeit widerspiegelte: der Hochverratsprozess gegen Ebert 1925, der Flaggenstreit um das republikanische Schwarz-Rot-Gold oder das kaiserliche Schwarz-Weiß-Rot 1926, der Volksentscheid zur Fürstenenteignung 1926 oder der Kampf um den Panzerkreuzer «A» 1928. Mit der Unversöhnlichkeit wuchs die Bereitschaft zur Gewalt: zwischen den Lagern und Klassen, aber auch innerhalb derselben. Hatte bis dahin die Rechte mit den Wehrverbänden private Bürgerkriegsarmeen unterhalten, so gründeten 1924 SPD, DDP und Zentrum das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, im gleichen Jahr die KPD den Roten Frontkämpfer-Bund. Auch die Verbände der Linken waren keine Traditionsverbände mehr, sondern Parteiarmeen. Außerhalb des «Saalschutzes» (bezeichnend genug für die Handgreiflichkeit der politischen Auseinandersetzungen) kamen sie noch nicht zum Einsatz. Doch ihre Existenz unterstrich, dass auch die demokratisch-republikanischen Parteien zunehmend die Erwartung preisgaben, die Probleme auf dem Wege des parlamentarischen Kompromisses lösen zu können.
Die Bereitschaft zur Gewalt reichte aber weit über das Feld politischer Auseinandersetzungen hinaus. Abgeleitet aus dem kulturkritischen Diskurs seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, entwickelte sich ein Elitekonzept, das nach 1918 in ganz Europa fast zwangsläufig antidemokratisch wurde in seinem «Hass auf die Massen». Gerade in der Zwischenkriegszeit kannte die Bereitschaft zur «Eindämmung» der Massen durch soziale Disziplinierung kaum eine gedankliche Grenze: Die Architektur versuchte, eine «rationale» Lebensführung durch die Gestaltung von Stadt- und Wohnraum («Wohnmaschine») zu erzwingen. Die Eugenik träumte davon (und zwar von links bis rechts), das «lebensunwerte Leben» durch Zwangssterilisationen und Euthanasieauszumerzen, um den «neuen Menschen» zu schaffen. Intellektuelle, selbst auf der politischen Linken, entwickelten Vernichtungsphantasien, die bis zur millionenfachen Tötung unerwünschter Bevölkerungsgruppen durch Giftgas reichten (z.B. G. B. Shaw, D. H. Lawrence). Die Grenze zur systematischen Tötungspraxis überschritten freilich nur die Sowjetunion und das Dritte Reich.
Es gehört zu den Widersprüchen der Zeit, dass der Bereitschaft zur Gewalt der Wille zum Amüsement gegenüberstand. Die Flucht in die «Unterhaltung» – begünstigt durch die neuen Medien Radio und Film, Massenpresse und Massenunterhaltung – setzte mit der «Tanzwut» 1918/19 ein, bei den Siegern wie den Verlierern des Krieges. Die Jazztänze gehörten zur Revolution 1918/19 wie der Walzer zu der von 1789 oder der Cancan zu der von 1830. Tanzsäle, Kinopaläste, Cabarets und «Tingeltangel», aber auch Vergnügungsparks, der Zuschauersport in Großstadien und Sportpalästen erlebten einen ungeheueren Aufschwung, gerade auch in Arbeiterkreisen und gerade in Krisenzeiten: der «Tanz auf dem Vulkan».
1. Konsolidierung im Zeichen des Bürgerblocks
Die Regierung Stresemann, die den Ruhrkampf abgebrochen und die Währungssanierung eingeleitet hatte, wurde am 23. November 1923 gestürzt und durch ein Minderheitenkabinett unter dem Zentrums-Kanzler Wilhelm Marx ersetzt. Dieses Kabinett aus Zentrum, DVP und DDP sowie zwei konservativen Parteilosen konnte sich nur halten, weil es mithilfe eines Ermächtigungsgesetzes die Geschäfte führte; die vollziehende Gewalt lag bei der Reichswehr. Nachdem die wichtigsten Maßnahmen durch Notverordnung durchgesetzt worden
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