Die Weimarer Republik
Deutschlands Lage lasse nichts anderes zu als «zu finassieren und den großen Entscheidungen auszuweichen», solange man besetzt und wehrlos sei. In den Worten seiner Mitarbeiter hieß das konkret: Opposition im Völkerbund zugunsten einer Reform «im Geiste Wilsons» bzw. einer «Neugründung»; Durchbrechung der französisch-englischen Hegemonie, mit dem «russischen Schatten» im Hintergrund; Bildung eines Systems kollektiver Sicherheit gegen diese Hegemonie, wobei dem Reich an der Verhinderung neuer Kriege «nicht so viel gelegen» sei wie den anderen; «kein Faustschlag», sondern Prestigegewinn durch «salbungsvollen Ton» und Konzilianz.
Der Ausgleich mit Frankreich war der Angelpunkt. Die Anerkennung der Westgrenzen bedeutete den Verzicht auf Elsass-Lothringen. Im Gegenzug gelangen das Offenhalten der Saarfrage, die Wiedergewinnung der Souveränität durch Räumung des Rheinlandes vor Termin, ebenso eine Durchbrechung der französischen Umklammerung in Osteuropa durch Bündnisverträge. Erfolge waren gleichfalls das Ende der alliierten Militärkontrolleund der Abschluss des deutsch-französischen Handelsabkommens 1927, das Deutschland erhebliche Erleichterungen bei seiner Rückkehr auf den Weltmarkt einbrachte. Aber das Ziel, von Belgien die Rückgabe Eupen-Malmedys zu erreichen, scheiterte. Ebenso zerschlug sich die Hoffnung auf ein vorzeitiges Ende der zum Symbol gewordenen Reparationen bzw. erfüllte sich erst 1932 mit dem Hoover-Moratorium, drei Jahre nach Stresemanns Tod.
In der Bilanz lag der Gewinn der Verhandlungen von Locarno bei Deutschland, wenngleich der Verzicht auf Elsass-Lothringen und die Vorleistungen des Dawes-Planes die Bedenken der Rechten zu bestätigen schienen, das Reich habe zum zweiten Mal kapituliert. Nur mit Schwierigkeiten erreichte Stresemann von Frankreich das Vorziehen der vereinbarten Gegenleistungen, um seine Rechnung innenpolitisch aufgehen zu lassen. Umso stärker richtete sich das Interesse auf Osteuropa, wo das Reich nun «freie Hand» zu haben schien. Daher verweigerte Stresemann in Locarno eine Anerkennung der Ostgrenzen; das Reich verpflichtete sich stattdessen nur zum Austragen aller Streitigkeiten auf friedlichem Wege. Die französischen Freundschaftsverträge mit Polen und der Tschechoslowakei wurden ebenso in das Paket von Locarno aufgenommen wie die deutschen Schiedsverträge mit diesen beiden Staaten, aber die Ostgrenzen wurden nicht wie die Westgrenzen von den anderen Locarno-Mächten garantiert.
Trotz der Abstufung zwischen Ost- und Westgrenzen bedeutete der Beitritt zum Völkerbund 1926 eine Bindung für das Revisionsstreben, auf den Frankreich daher bestanden hatte; jedoch verlieh der ständige Sitz im Völkerbundsrat dem Reich eine Vetoposition und wertete es zur Großmacht auf. Aber für die konservativen Kritiker Stresemanns musste sich im Osten erweisen, was Stresemanns Verständigungspolitik wert war. Mit der Westbindung habe sich das Reich von Russland abgewandt und sich des Mittels beraubt, durch eine Schaukelpolitik Druck auf den Westen auszuüben. Die Sowjetunion übte ihrerseits starken Druck aus, um Deutschland vom Völkerbundsbeitritt abzuhalten, dessen Ausbau zur antisowjetischen Verschwörungsie befürchtete. Um die Konservativen und die Sowjetunion zu beruhigen, gelangte Stresemann auch hier zu einer doppeldeutigen Lösung. Er setzte durch, dass das Reich sich bei Sanktionen nach Art. 16 der Völkerbunds-Akte nicht zu beteiligen brauchte. Das wurde dahingehend ausgelegt, dass das Reich im Falle eines sowjetischpolnischen Krieges die Sowjetunion vor einer Völkerbunds-Intervention schützen wolle, um selbst seine Revisionsziele gegenüber Polen durchsetzen zu können. Im Berliner Vertrag von 1926 gab Deutschland der Sowjetunion eine Neutralitätszusicherung, jedoch begrenzt durch die Völkerbunds-Verpflichtungen, versprach Konsultationen und bekräftigte den Vertrag von Rapallo.
Damit schien die Gelegenheit gegeben, die Polenfrage in Angriff zu nehmen. Anhaltende Konflikte wegen der Ausweisung Deutscher, Zollfragen, Enteignungsmaßnahmen usw. hatten die Revisionsfrage angeheizt. Die Bedeutung Polens als Bündnispartner hatte für Frankreich seit Locarno nachgelassen, England zeigte sich eher desinteressiert, während die Sowjetunion kaum verhüllte Angebote zum gemeinsamen Vorgehen machte. Hebel sollte Polens Finanzkrise sein, die eine internationale Sanierungsaktion erforderlich machte, bei der Deutschland eine führende Rolle zukam, da es
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