Die Weimarer Republik
die Hälfte des polnischen Außenhandels aufnahm. Stresemann plädierte für ein Hinauszögern der Sanierung, um die Krise sich vertiefen zu lassen, «bis das Land für eine unseren Wünschen entsprechende Regelung der Grenzfrage reif» sei – wohl wissend, «wie schwierig das ganze Problem ist». Die Illusionen verflüchtigten sich bald. Kleinere Grenzkorrekturen, wie die Briten sie andeuteten, wären innenpolitisch zu wenig gewesen, bis 1927 mit einer amerikanischen Kreditoperation die Chance erledigt war. Es zeigte sich, dass Locarno dem Reich Bindungen auferlegt hatte, die es ihm unmöglich machten, ohne Krieg oder militärische Pression Revisionsziele zu erzwingen. Staatssekretär Schubert, der den kranken Stresemann mehr und mehr ersetzte, blies alle Maßnahmen ab, da Deutschland durch einen Alleingang gegen Polen Locarno infrage stellen und sich im Völkerbund isolieren könne.
Das bedeutete die totale Umkehrung der ursprünglichen Konzeption,in der die Verständigung mit Frankreich der Ausgangspunkt für eine Revision in Osteuropa sein sollte. Jetzt wurde der Verzicht auf eine Revisionspolitik im Osten zur Grundlage der Verständigungspolitik mit Frankreich. Die normative Kraft der selbst geschaffenen Fakten zwang Stresemann umzulernen. Das unterschied ihn von seinen Nachfolgern. Auch wenn Stresemann diesen Weg nicht immer freiwillig gegangen ist, so hat er diese Politik als die einzige Alternative für eine besiegte Nation eingeschlagen. Seine größte Leistung war, den eigenen Lernprozess innenpolitisch durchgesetzt zu haben, obwohl er zuletzt etwas verbittert auf das «Scheitern» seiner ursprünglichen Ziele zu reagieren begann.
Die konservativen Kritiker Stresemanns hatten nur scheinbar recht behalten, dass der Dawes-Plan das Ende des Revisionismus bedeutete, und erst recht der Young-Plan. Beide brachten dem Reich erhebliche Vorteile, aber eben nur Teilerfolge und nicht die Gesamtrevision. Beide gaben, in Verbindung mit dem Auslaufen verschiedener Strafbestimmungen des Versailler Vertrages 1925, dem Reich wesentliche Teile seiner außenpolitischen und wirtschaftlichen Souveränität zurück. Der Young-Plan reduzierte 1929 die Gesamtsumme der Reparationen auf 112 Mrd. Dollar, zu zahlen in 59 Jahren, sodass sich die Jahresrate von 2,5 auf 2 Mrd. verringerte, in den ersten drei Jahren gar auf 1,7 Mrd. Dafür entfielen alle ausländischen Kontrollen, und das Rheinland wurde bis 1930 vollständig geräumt, fünf Jahre früher als vorgesehen. Doch provozierte diese Geste Frankreichs, wie die von nationalem Freiheitspathos begleiteten Feiern im Rheinland zeigten, nur die Forderung nach weiterem Entgegenkommen. Das deutete darauf hin, dass der von der Rechten in der «Harzburger Front» organisierte Sturm des Protestes gegen den Young-Plan einer in der Bevölkerung breit verankerten Grundstimmung entsprach, auch wenn der von ihr initiierte Volksentscheid gegen die erneute «Versklavung» nur die Zustimmung von 13,8 % der Wahlberechtigten fand. Wie sich zeigen sollte, wurde das vermeintliche «Ende des Revisionismus» zum Ausgangspunkt für den «neuen» Revisionismus der nachfolgenden Präsidialkabinette.
III. 1930–1933:
Zerfall und Zerstörung
Die Weltwirtschaftskrise traf nicht nur in Deutschland auf eine tief zerklüftete Gesellschaft, die sich in einem schmerzhaften Prozess der Neuorientierung befand. Der fehlende Konsens der sozialen Großgruppen über die fundamentalen Ordnungsprinzipien sowie die damit einhergehenden Wertentscheidungen und Entwicklungspfade führten in der gegebenen Pattsituation zur Blockade des politischen Systems. Auch England oder Frankreich kamen nicht ohne Notstandsmaßnahmen aus, aber doch im Rahmen der Verfassung. Großbritannien überwand die Währungs- und Staatskrise 1931 mit einer Allparteienkoalition parlamentarisch, in den skandinavischen Ländern fanden Koalitionen aus Sozialdemokratie und Landwirtschaft eine historisch neue Konsenslösung. Als die Volksfront in Frankreich an die Macht kam, schien das Land am Rande des Bürgerkriegs, der in Spanien bei einer ähnlichen Konstellation ausbrach. Mit Ausnahme der Staaten Nordwest- und Nordeuropas – dazu die Tschechoslowakei, die einen Sonderfall darstellte – stand in allen anderen Staaten Europas am Ende der Krise die Errichtung unterschiedlich gearteter Diktaturen.
Die Gleichzeitigkeit von Wirtschafts-, Staats- und Kulturkrise, die das Scheitern der Großen Koalition begleitete, war ein europäisches Phänomen.
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