Die weise Frau
anklagend auf sie zeigen. Alys lehnte sich gegen die Tür und starrte auf das Hemd, bis es wieder flach und schlaff dalag.
»Hier«, sagte sie, als sie zurück in die Galerie kam.
Hugo nahm das Glas, ohne aufzuschauen, und flößte Catherine den Trank Schluck für Schluck ein, wobei er ihr Gesicht nicht aus den Augen ließ und mit leiser, sanfter Stimme auf sie einredete. Als sie schließlich aufhörte zu schluchzen, sich aufsetzte und das Gesicht mit ihrem Taschentuch abwischte, drehte er sich zu Eliza und sagte: »Du da! Bereite der Lady das Bett! Sie sollte jetzt schlafen!«
Eliza machte einen hastigen Knicks und ging in Catherines Gemach.
»Hast du etwas, was ihr hilft einzuschlafen?« fragte er Alys über die Schulter.
Sie ging noch einmal in das Zimmer, das sie mit Morach geteilt hatte. Ein Scheit auf dem kleinen Feuer war verrutscht, und die Schatten sprangen und tanzten einen Reigen um das Bett. Für einen Moment sah es aus, als säße jemand auf der Truhe am Kopfende des Bettes, mit dem Gesicht zur Tür. Alys lehnte sich gegen die Tür und drückte die Hand fest auf ihr Herz. Dann holte sie die Tropfen aus gequetschten Mohnblumen für Lady Catherine.
Hugo bedankte sich für die Medizin und führte Catherine — mit einem Arm um ihre feiste Taille — von der Galerie in ihr Schlafgemach.
Alys sah ihnen nach, wie Catherines Kopf auf Hugos Schulter fiel, hörte ihre klägliche Stimme und seine sanften Beschwichtigungen. Alys kniff den Mund zusammen und zügelte ihre Wut.
»Hast du denn keine Angst, heute nacht hier allein zu schlafen?« fragte Eliza, nachdem Alys die Tür hinter dem Paar geschlossen hatte.
»Nein«, sagte Alys.
Eliza war entsetzt. »Im Bett einer Toten!« rief sie. »Wo das Kissen noch den Abdruck ihres Kopfes trägt! Ich hätte Angst, daß sie kommt, um sich zu verabschieden! Das machen die nämlich! Sie wird kommen und sich verabschieden, bevor sie ihren Frieden gefunden hat, die arme alte Frau.«
Alys tat die Worte mit einem Achselzucken ab. »Sie war eine arme alte Frau, und jetzt ist sie tot«, sagte sie. »Warum sollte sie nicht in Frieden ruhen?«
Ruth warf ihr einen scharfen Blick zu. »Weil sie im Wasser ist. Wie soll sie am Jüngsten Tag auferstehen, wenn ihr Körper ausgebleicht und durchnäßt ist?«
Alys merkte, wie ihr Gesicht vor Entsetzen zu zittern begann. »Das ist doch Unsinn. Ich hör mir das nicht an. Ich geh ins Bett.«
»Du gehst schlafen?« fragte Mistress Allingham überrascht.
»Natürlich«, erwiderte Alys. »Warum sollte ich nicht schlafen? Ich werde mir mein Nachthemd anziehen, meine Nachthaube zubinden und die ganze, lange Nacht schlafen.«
Sie stapfte hochmütig aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Sie zog sich aus — genau wie sie es gesagt hatte — und band sich ihre Nachthaube zu. Dann zog sie ihren Schemel an den Kamin und warf noch ein Scheit auf das Feuer und zündete eine weitere Kerze an, damit alle Schatten aus dem Raum verbannt waren und es taghell war. Und dann lief sie die ganze Nacht auf und ab und wartete — damit Morach sie nicht überrumpeln konnte, ganz naß und kalt. Morach sollte nicht zu ihr kommen können, eine eisige Hand auf ihre Schulter legen und noch einmal sagen: »Nicht mehr lang, Alys.«
Am nächsten Morgen ließ Alys eine Magd aus der Küche holen, und zusammen mit ihr entfernte sie alle Spuren von Morach aus der Kammer. Die Küchenmagd ging ihr bereitwillig zur Hand — in der Hoffnung, sie würde Kleider oder Wäsche geschenkt bekommen. Zu ihrem Entsetzen über so eine Verschwendung türmte Alys alles auf einen Haufen und trug es hinunter zum Küchenfenster.
»Ihr werdet doch nicht etwa das Wollkleid verbrennen!« Die Köchin eilte zu ihr und beäugte den kleinen Stapel Kleider. »Und ein Stück gutes Leinen!«
»Das ist alles verlaust«, sagte Alys. »Willst du ein Kleid mit den Flöhen einer Toten? Möchtest du ihre Läuse?«
»Könnte man waschen«, sagte die Köchin und stellte sich zwischen das Feuer und Alys.
Alys' blaue Augen waren verschleiert. »Sie war bei Kranken«, sagte sie. »Glaubst du, du kannst die Pest herauswaschen? Willst du es versuchen?«
»Ach, verbrennt es«, sagt die Köchin irritiert. »Aber Ihr müßt meinen Herd reinigen. Ich koche das Essen für Mylord hier, vergeßt das nicht.«
»Ich habe ein paar Kräuter«, sagte Alys. »Geh zurück.«
Die Köchin zog sich eilends zum Feuer auf der anderen Seite der Küche zurück, wo der Küchenjunge den Spieß drehte, so daß
Weitere Kostenlose Bücher