Die weise Frau
gelassen. »Dann weißt du ja, daß sie nicht meine Mutter war«, sagte Alys. »Meine wirkliche Mutter war eine Lady. Sie ist bei einem Feuer umgekommen. Morach war meine Amme, meine Ziehmutter. Jetzt ist sie tot, und ich bin da, wo ich hingehöre. Auf der Burg.«
Sie wandte sich Hugo zu. »Ich werde mich zu Lord Hugh setzen«, sagte sie freundlich, »während Ihr Euer Heu mäht. Bringt mir eine Handvoll Heu und Blumen!«
Sie sprach so deutlich, daß jeder hören konnte, daß sie den jungen Lord herumkommandierte wie eine Geliebte ihren Liebhaber; dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging über die weichen Stoppeln der Wiese. Die Augen der Erntearbeiter und der Leute aus dem Schloß folgten jedem Schritt. Das neue Kleid raschelte über das Heu. Grün, die Farbe des Frühlings, des Wachstums ... und der Hexerei. Alys wünschte, sie hätte ein Kleid in irgendeiner anderen Farbe angezogen, aber sie schritt hocherhobenen Hauptes über die Wiese und lächelte alle an. Wo immer ihr Blick hinfiel, wandten sich die Leute ab, traten verlegen von einem Fuß auf den anderen. Wie ein junger, gefährlicher Hund, der durch eine Schafherde geht, ging sie über das Feld. Die Leute wichen wie mißtrauische alte Mutterschafe zur Seite, um ihr nicht zu nahe zu kommen.
Aber Alys hörte das sanfte Raunen, leise wie der Wind, der durch das hohe Gras raschelte. »Wo ist Lady Catherine?« rief jemand von hinten, lauter als die anderen. »Wo ist Hugos Gemahlin? Wir wollen die Schloßherrin, nicht die Schloßhure!«
Alys hielt den Kopf hoch erhoben. Ihr Blick streifte über die Gesichter, und sie lächelte unbeirrbar. Es gelang ihr nicht, jemanden beim Reden zu erwischen. Die Gesichter waren hohl und verängstigt. Es gab keinen, den sie Verleumder nennen konnte. Egal, wie schnell ihr Blick von einem trotzigen Gesicht zum nächsten huschte, das Flüstern eilte ihr immer voraus. Kurz vor der Laube wäre sie beinahe gestolpert, wie ein Verbrecher, der Zuflucht sucht. Dann blieb sie stehen, denn der alte Lord und David saßen auf den einzigen beiden Stühlen.
»Ich muß dich um deinen Stuhl bitten, David«, sagte sie ohne Umschweife. »Es war heiß in der Sonne, und ich möchte mich setzen.«
Einen Augenblick, nur den Bruchteil eines Augenblicks, schien es, als würde er sich weigern.
»Laß ihr den Stuhl«, sagte der alte Lord gereizt. »Sie trägt meinen Enkel.«
David erhob sich zögernd und stellte sich hinter den Stuhl des alten Lords.
»Was war denn da los?« fragte der alte Lord.
Alys saß still da, die Hände ruhig im Schoß gefaltet, mit gefaßtem Gesicht. »Bauerntratsch«, sagte sie. »Sie beneiden mich, diejenigen, die Morach und die widerliche kleine Hütte gekannt haben. Sie erfinden Märchen über Hexerei und ängstigen damit höchstens sich selbst. Diese alte, streitsüchtige Norton hat sich in ihren dicken Kopf gesetzt, daß ich den jungen Lord verhext und Catherine verdrängt habe. Sie wollte mich beleidigen.«
Der alte Lord nickte. Hugo hatte seine schwere, vornehme Weste abgelegt. Ein hübsches Mädchen war vorgetreten und hielt sie für ihn. Man hörte Hugos geschmeicheltes Lachen. Norton reichte ihm eine Sense. Hugo krempelte seine weißen Ärmel hoch, spuckte in beide Handflächen und packte sie mit festem Griff. Die Menge jubelte. Hugo war sehr beliebt, da er die Arbeiter an seinem Haus gut bezahlte.
»Seltsam, wie das Wort ›Hexe‹ dich verfolgt«, bemerkte der alte Lord. Er beobachtete Hugos Bewegungen. Das junge Mädchen mit seiner Jacke, Norton und die anderen Erntegehilfen gingen lachend hinter ihm her. Die Stimmung hatte sich gehoben.
Die Musiker spielten ein Lied mit hämmerndem Rhythmus, ein junger Bursche sang.
Alys sagte nichts.
»Das Wort ist ein schlechter Halsschmuck. Sieht nicht gut aus. Für dich — aber nicht nur für dich. Auch für Hugo und mich.« Das ist doch nur Klatsch und Unsinn«, erwiderte Alys.
»Vielleicht haben sie von dem Gottesurteil gehört?« warf David ein. »Oder von Alys' Prophezeiungen im Traum? Oder vielleicht mißtrauen sie ihrem ungewöhnlichen Wissen — ungewöhnlich für ein Mädchen aus einer Kate? Oder Morachs plötzlichem Tod? Ich habe Gerüchte vernommen, daß sie tatsächlich eine Hexe gewesen sei und ertrank, als sie versuchte zu fliehen.«
Die Sonne auf dem Feld war sehr heiß, aber Alys zitterte in der Laube, als würde sie frieren.
»Ich trage Hugos Kind unter dem Herzen«, sagte sie gelassen. »Ich bin die zweite Frau, die er in seinem Leben
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