Die weise Frau
flüsterte Alys, als sie sie erkannte. »Dich habe ich nicht gerufen. Ich werde deine Runen benutzen, denn ich muß meine Zukunft wissen. Aber ich rufe dich nicht. Bleib im Wasser. Bleib außer Sicht. Du und ich, wir werden beide wissen, wann deine Zeit gekommen ist.«
Sie wandte sich vom Fenster ab und setzte sich auf den Teppich vors Feuer. Dann schüttelte sie den Beutel wie ein Spieler seine Würfel und schleuderte sie vor sich auf den Boden. Ohne die Zeichen anzuschauen, griff sie nach sorgfältiger Überlegung drei heraus.
»Meine Zukunft«, sagte sie. »Hugo benutzt mich als seine Hure, und jetzt bin ich nichts mehr hier. Es muß noch mehr für mich geben. Zeigt mir die Zukunft.«
Sie legte die drei Runen vor sich aus und steckte die restlichen wieder in den Beutel.
»Jetzt«, sagte sie.
Die Erste, die sie gezogen hatte, lag mit dem Gesicht nach unten. Die Rückseite war ohne Zeichnung, sie drehte sie um. Die Vorderseite war ebenfalls glatt.
»Odin«, sagte sie überrascht. »Nichts. Tod.«
Die Zweite war glatt. Sie drehte sie um und dann noch einmal. »Das ist nicht möglich«, flüsterte sie. »Es gibt nur eine glatte Rune. Alle anderen sind markiert.« Sie drehte die Dritte um. Sie war auf beiden Seiten glatt, eine Seite so blank wie die andere. Alys blieb absolut reglos sitzen, mit den drei gesichtslosen Runen in der Hand.
Dann hob sie den Kopf und drehte ihn zur Schießscharte. Der Dunst erzitterte über dem Fluß und formte die Gestalt einer ruhenden Frau. »Du hast es gewußt«, flüsterte Alys leise dem Nebel zu. »Du hast es mir gesagt, aber ich habe es nicht gehört. Tod hast du gesagt. Tod in den Runen. Und ich habe dich gefragt, ›wie lange‹, und du wolltest es mir nicht sagen. Jetzt sind deine Runen auch für mich blank.«
Sie kippte den Beutel aus. Die restlichen Knochen purzelten auf den Boden. Jeder war glatt und jungfräulich wie ein alter, polierter Schädel.
Alys erschauderte. Sie sammelte die Runen hastig ein und verstaute den Beutel in der Truhe. Dann kroch sie, fest in ihren Schal gewickelt, ins Bett. Sie konnte vor Zittern nicht einschlafen.
Hugo ritt beim ersten Morgengrauen los. Catherine schlief bis weit in den Vormittag. Die Damen in der Galerie beäugten Alys aus den Augenwinkeln, als sie aus dem Zimmer kam, mit heiterem Gesicht, den roten Mantel um die Schultern geschlungen.
»Ich muß hinauf ins Moor«, sagte sie zu Eliza. »Ich brauch noch ein paar Kräuter für Catherine. Schläft sie noch?«
»Ja«, sagte Eliza. »Wann wirst du wieder zurück sein?«
Alys' Blick war abweisend. »Ich werde rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein«, sagte sie.
»Ich begleite dich bis zum Stall«, sagte Eliza.
Sie und Alys gingen die Treppe hinunter, quer durch die Halle und durch die große Tür in den Garten. Sie passierten das Tor, überquerten die Brücke und gingen dann über die Wiese zu den Stallungen.
»Eine hübsche Stute ist das«, sagte Eliza neidisch, als der Stallbursche Alys' neues Pferd herausführte.
»Ja«, sagte Alys mit verbitterter Befriedigung. »Ja, das ist sie. Sie war teuer.« Sie schnippte die Finger nach dem Stallburschen.
»Hol mir etwas zu essen aus der Küche. Ich werde den ganzen Tag draußen auf dem Moor bleiben.« Der Bursche verbeugte sich kurz und lief los.
»Hugo hat die ganze Nacht bei Catherine geschlafen«, sagte Eliza in vertraulichem Unterton, während sie dem Burschen nachschauten, wie er zur Küche lief.
»Ich weiß«, sagte Alys kühl.
»Hat er jetzt genug von dir?« fragte Eliza.
Alys schüttelte den Kopf »Ich trage seinen Sohn unter meinem Herzen. Mein Platz ist gesichert.«
Elizas Blick war geradezu mitleidig. Alys merkte, wie sie deshalb errötete.
»Was ist denn?« fragte sie. »Warum starrst du mich so an?«
»Du wärest sicherer gewesen, wenn du den Soldaten geheiratet hättest, den Lady Catherine für dich ausgesucht hat«, bemerkte Eliza scharfsinnig. »Wenn dich interessiert hätte, wo du bei einem Mann dran bist, wäre er der richtige für dich gewesen. Hugo ist launenhaft wie das Wetter. Jetzt ist er wieder bei Catherine, und als nächstes wird es eine andere Frau sein. Du kannst nicht behaupten, dein Platz wäre gesichert, wenn du auf Hugo vertraust.«
Der Stallbursche kam mit einem kleinen Ledersack in der Hand angerannt. Er band ihn an den Sattel und führte ihr die Stute zu. »Er hat sie doch für mich gekauft, nicht wahr?« Alys deutete auf das Tier. »Und ich habe eine Truhe voller Kleider. Und ich trage
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