Die weise Frau
reiten?« fragte sie Mary, als sie die Treppe hinuntergingen.
Mary nickte. »Mein Vater hatte einmal eine kleine Farm«, sagte sie. »Er hat Pferde für den Adel gezüchtet.«
»Hat er sie denn nicht mehr?« fragte Alys.
Mary schüttelte den Kopf. »Es war Land, das dem Kloster gehörte«, sagte sie. »Nachdem das Kloster zerstört war, hat Lord Hugh das Land vom König gekauft. Die Pacht war zu hoch für uns, wir mußten gehen.«
»Was macht dein Vater jetzt?« fragte Alys ohne sonderliches Interesse.
Mary schüttelte den Kopf. »Er hat den Verlust der Farm nicht verkraftet. Es war für ihn der Tod«, sagte sie. »Er hat ein paar Gelegenheitsarbeiten — Schafscheren im Sommer, Heuen. Graben im Winter. Meistens tut er nichts. Sie leben sehr ärmlich.«
»Du kannst mein Pferd reiten«, sagte Alys. »Ich nehm einen Maulesel. Wir können tauschen, sobald wir außer Sichtweite des Schlosses sind. Lord Hugh macht sich zuviel Sorgen um meine Sicherheit.«
Mary nickte, und der Stallknecht führte die Pferde heraus. Sie stieg locker in den Sattel und schüttelte ihre Röcke. Der Knecht pfiff anerkennend. Mary warf ihre blonden Locken zurück und lächelte ihn an. Alys wurde auf den Rücken des Maulesels gehoben und ließ das Tier im Schritt losgehen.
Zwei bewaffnete Männer schlossen sich ihnen an, als sie das Tor nach Castleton passieren. Einer ging vor ihnen, der andere hinter ihnen.
Wieder stand ein heißer Tag bevor. Alys litt unter dem Gewicht der Haube und schwitzte unter dem Tuch um ihren Hals. Sie warf verstohlen neidische Blicke auf Mary, die locker und selbstsicher im Sattel saß.
»Nicht mehr lang bis zur Ernte«, sagte das Mädchen fröhlich. »Ein gutes Jahr für Getreide. Und es wird ein guter Herbst für Obst, sagt mein Vater.«
»Halt an«, sagte Alys brüsk. »Ich werde jetzt selbst mein Pferd reiten.«
Mary zügelte das Pferd, und die Soldaten halfen den beiden Frauen, ihre Reittiere zu tauschen. Sie ritten schweigend weiter; die Straße stieg höher und immer höher, und die Felder wichen unbestelltem Weideland — das nur für Schafe geeignet war —, und dann waren sie oben im dichten violetten Dunst des offenen Moores. Lerchen stiegen in den Himmel, und über einem Felsen zur Rechten schwebten Bussarde. Noch höher am Himmel war ein kreisender Punkt: ein Adler.
Der Fluß war verschwunden, hatte sich unter der Erde versteckt, als hätte er Geheimnisse, die für den Sonnenschein zu finster wären. Der harte weiße Kalkstein des Flußbettes reflektierte das Sonnenlicht, steinern gleißend. Alys war froh, als sie in den grünen Schatten des Haines ritten.
»Ihr könnt euch hier hinsetzen und zu Mittag essen«, sagte sie zu den dreien. »Ich gehe tiefer in den Wald, um die Borke zu holen. Wartet hier auf mich. Es dauert vielleicht einige Zeit, ich muß den besten Baum finden und die Rinde schneiden. Sucht nicht nach mir, hier kann mir gar nichts passieren, und ich will nicht gestört werden.«
Die beiden Soldaten waren unschlüssig. »Lord Hugh hat gesagt, wir sollen auf Euch aufpassen«, warf einer von ihnen ein.
Alys lächelte ihn an. »Was soll mir denn hier passieren?« fragte sie. »Es ist niemand auf der Straße und auch niemand im Wald. Ich bin hier aufgewachsen, ich kenne die Gegend hier besser als jeder andere. Ich bin hier sicher. Ich werde nicht weit weg sein. Kaum außer Hörweite. Ruht euch hier aus, bis ich wieder zurückkomme.«
Sie ritt die Anhöhe hinunter, das Pferd vermied die Wurzeln auf dem Weg, und als sie außer Sichtweite war, hielt sie an. Sie wartete einige Minuten. Keiner folgte ihr. Alys wandte das Pferd stromaufwärts, wechselte in Trab und dann in Galopp, entlang der grasbewachsenen Böschung des Flusses bis zu Morachs Hütte.
Mutter Hildebrande saß auf der Türschwelle, ihr müdes altes Gesicht hatte sie der Sonne zugewandt, als wolle sie ihre Wärme aufsaugen. Sie öffnete die Augen, als sie den Hufschlag hörte, und richtete sich mit Hilfe des Türstocks auf.
Alys stieg ab, band das Pferd an einen Busch und stieg über die Schafspforte.
»Mutter«, sagte sie. Sie sah sich rasch um. Das offene Moor in der Umgebung der Hütte war kahl und leer. Alys kniete sich vor die Schwelle, und Mutter Hildebrande legte ihre zittrige Hand auf Alys' Kopf und segnete sie.
»Du bist endlich hier, Tochter«, sagte Mutter Hildebrande.
Alys stand auf. Die Augen der alten Frau sahen sehr entschlossen drein.
»Ich kann nicht bleiben«, sagte Alys leise. »Noch nicht. Ich
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