Die weise Frau
lassen!«
Mutter Hildebrande sah sie an. »Dann bleib hier«, sagte sie schlicht. »Wir können hier auf sie warten und dann ihnen gemeinsam entgegentreten.«
Alys schüttelte den Kopf. »Sie würden sofort kommen und uns beide gefangennehmen«, sagte sie. »Wir hätten gar keine Chance!«
»Keiner kann eine weise Frau gefangennehmen«, sagte Mutter Hildebrande. »Ihr Herz und ihr Verstand gehören nur ihr selbst. Wenn du deine Gelübde befolgst, werden alle Hindernisse auf deinem Weg einstürzen.»
»Ihr wißt ja nicht, was sie mit Euch machen werden«, rief Alys.
Mutter Hildebrande schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich weiß genau, was sie mit mir machen werden. Sie werden mich verhören, sie werden mich beknien, meinem Glauben abzuschwören. Habt ihr eine Folterkammer im Schloß?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Alys widerwillig. »Ich denke schon... ich weiß es nicht. Ich war noch nie da.«
Mutter Hildebrande lächelte. »Und mich nennt man blind«, sagte sie. »Alys, Lord Hugh hat tatsächlich eine Folterkammer im Schloß von Castleton. Sie befindet sich im Kerkerturm in der östlichen Ecke des inneren Burgfriedens. Du kannst das Dach des Turms vom Marktplatz in Castleton sehen. Es liegt gegenüber von dem Turm, in dem Lord Hugh seine Räume hat. Wenn du das nicht weißt, mußt du wirklich blind sein. Man sagt, es wäre eine Art Keller ohne Eingang und ohne Ausgang, bis auf eine schmale Treppe zur Falltür im Wachzimmer. Sie haben Zangen, um die Finger- und Zehennägel auszureißen, sie haben große Scheren, um Ohren abzuschneiden, Zungen aufzuschlitzen. Sie haben eine kleine Schmiede, um die Brandeisen für die Haut zum Glühen zu bringen, und sie haben eine Streckbank, wo sie deinen Körper strecken, bis alle Gelenke aus ihren Kapseln gesprungen sind und man verkrüppelt ist.»
»Hört auf!« schrie Alys und hielt sich die Ohren zu. »Aufhören!»
»Sie haben eine Presse aus geschnitztem Holz, mit der sie dir die Luft aus dem Körper quetschen und dir die Rippen brechen. Sie haben einen Knebel, der dir den Mund mit scharfen Metallplatten offen hält. Sie haben einen Kragen mit nach innen stehen den Dornen, den sie immer enger machen, bis die Dornen durch deine Haut in deinen Hals eindringen.«
»Ich will das alles nicht hören!« schrie Alys.
Mutter Hildebrande wartete, bis Alys die Hände wieder von den Ohren genommen hatte. »Ich kenne die Gefahren, denen ich mich aussetze«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Es wäre doch ein armseliger Glaubensakt, wenn es zufällig geschehen würde, nicht wahr? Ich weiß, was sie mir antun können, wenn sie mich gefangennehmen. Es ist nur gut, wenn ich die Qualen kenne, die mich erwarten könnten. Unser Herr hat gewußt, was Ihn erwartet. Und meine Schmerzen werden nicht größer sein als die einer Kreuzigung. Keine schlimmeren Schmerzen, als Unser Herr sie für uns erlitten hat. Wenn Er mich ruft, wie kann ich mich da verweigern?«
Alys schüttelte stumm den Kopf.
»Ist es Angst, Schwester Ann? Hast du Angst, diesen Weg mit mir zu gehen?« fragte Mutter Hildebrande mitleidig. »Sag mir, wenn das so ist, dann werde ich dir einen anderen, einen sichereren Weg finden.«
Langes Schweigen folgte diesen Worten. Dann schüttelte Alys den Kopf. »Nein, Mutter«, sagte sie langsam. »Ich bin Eure Tochter gewesen von dem Augenblick an, als ich Euch das erste Mal gesehen habe. Wohin Ihr mich führt, habe ich versprochen zu folgen. Wenn es Gottes Wille und Euer Glauben ist, daß wir das riskieren müssen, kann ich mich nicht verweigern.«
Mutter Hildebrande legte sanft, stumm segnend ihre Hand auf Alys' Kopf. »Warum habe ich dann das Gefühl, daß du zögerst?« sagte sie leise. »Ist es der junge Lord, Schwester Ann? Hast du ihn liebgewonnen?«
Alys schüttelte verneinend den Kopf, aber Mutter Hildebrande ließ sie nicht aus den Augen. »Lebst du in Sünde, Ann?« fragte sie sanft. »Hast du einen verheirateten Mann angesehen und seine Gelübde seiner Frau gegenüber vergessen und deine gegenüber unserem Herrn? Gott verzeih mir, aber als ich dich das erste Mal in dem roten Kleid sah, habe ich gefürchtet, du wärst seine Hure geworden.»
»Das bin ich nicht!« flüsterte Alys.
»Er ist jung und sieht gut aus, und sie sagen, er liebt die Wollust und junge Frauen. Wenn er dich mit Gewalt genommen hat, Ann, oder selbst wenn er dich mit deiner Zustimmung verführt hat, kannst du es mir sagen, und wir werden gemeinsam Buße tun. Du kannst deine Sünde wiedergutmachen.
Weitere Kostenlose Bücher