Die weise Frau
»Er ist sehr fanatisch«, sagte sie.
Lord Hugh sah sie mit hochgezogener Augenbraue an. »Es lohnt sich«, sagte er. »Jetzt gehört die Kirche dem König. Alle Wege führen an den Hof des Königs, und gleich dahinter liegt Gottes Paradies. Sehr verlockende Aussichten, möchte ich meinen.«
Alys nickte lächelnd.
»Ich weiß nicht, wo das alles enden wird«, sagte er. »Ich werde das Ende bestimmt nicht mehr erleben, soviel ist sicher. Ich hab immer gedacht, sie kehren zu den alten Bräuchen zurück, aber ich wüßte nicht, wie das noch gehen soll. Die Hälfte der Klöster sind zerstört, die Priester haben alle den Eid auf den König geschworen. Trotzdem, es ist Hugos Erbe. Und er ist ganz auf Seiten der Neuen. Er wird seinen Weg finden müssen, ich bezweifle nicht, daß er das Geschick dazu hat. So wie Stephen aufsteigt, wird auch Hugo aufsteigen.«
Alys nickte wieder. »Die alte Frau...«, begann sie.
»Eine Papistin«, sagte der alte Lord. »Der Ketzerei und des Verrats angeklagt. Als sie sie von der Streckbank geholt und mit kaltem Wasser übergossen haben, damit sie wieder reden kann, hat sie sie alle verurteilt und gesagt, sie wäre bereit, für ihren Glauben zu sterben. Wir werden sie morgen vor Gericht stellen. Ich bezweifle, daß sie abschwören wird. Sie ist eine starke Frau.«
»Kann man sie denn nicht laufen lassen?« fragte Alys. »Irgendwohin verschiffen? Sie ist so alt und wird sowieso bald sterben. Sie ist für niemanden gefährlich.«
Lord Hugh schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht mehr, wo sie schon einmal verhaftet ist. Sie steht in den Gerichtsbüchern. Stephen weiß von ihr. Sein Bericht geht an den Bischof, meiner an den Rat. Sie kann nicht einfach verschwinden.«
»Es dient doch keinem guten Zweck, wenn Ihr sie hinrichtet«, sagte Alys hartnäckig. »Das Volk könnte Euch vorwerfen, eine alte Frau zu quälen. Es könnte sich gegen Euch stellen.«
Der alte Lord drehte sich zu Alys. »Ich kann nichts mehr daran ändern«, sagte er sanft. »Sie ist angeklagt, und ich werde morgen über sie richten. Stephen wird versuchen, sie umzustimmen und sie verhören. Wenn sie nicht abschwört, muß sie sterben. Das ist keine Laune, Alys. Das ist das Gesetz.«
»Könntet Ihr nicht...«, begann Alys.
Lord Hugh wandte sich zu Alys, und sein Blick war scharf. »Kennst du sie?« fragte er barsch. »Ist sie aus deinem alten Orden? Bittest du für sie?«
Alys begegnete furchtlos seinem Blick. »Nein«, sagte sie. »Ich habe sie nie zuvor gesehen. Sie tut mir nur leid. So eine närrische alte Frau, und jetzt muß sie für ihre Wahnvorstellungen sterben. Es belastet mich, daß meine Beschwerde sie hierhergebracht hat, mehr nicht.«
Hugh beugte sich vor und klatschte in die Hände, um die Hennen zu verjagen. Sie stoben außer Reichweite. Der Hahn flatterte mit seinen Schwingen und sprang ungelenk auf eine flache, kleine Buchsbaumhecke. Er reckte seinen Hals und krähte.
Alys beobachtete den tief smaragdgrünen Schimmer an seinem Hals.
Lord Hugh schüttelte den Kopf. »Es ist nicht deine Schuld«, sagte er. »Wir wären so oder so auf sie aufmerksam geworden.
Und dann hätten wir sie verhaften müssen. Sie ist eine alte Närrin auf der Suche nach einem Heiligenschein. Die hätte nie den leichten Weg gewählt, nie sich der Zeit angepaßt. Sie ist eine närrische alte Märtyrerin. Keine weise Frau wie du, Alys.«
Alys ging langsam ins Schloß. Das rauchige Dämmerlicht der Großen Halle war wohltuend nach dem goldenen Sonnenlicht des Gartens. Sie bewegte sich ohne Zweck und Ziel. Hugo war zu seinem neuen Haus geritten, übte Bogenschießen, ritt gegen die Attrappe im Turnierhof oder vertrieb sich die Zeit mit irgendwelchen anderen Ablenkungen. Alys blieb am Ende der Halle stehen und lehnte sich an den Tisch, wo die altgedienten Soldaten ihr Essen einnahmen. Hugo war wie ein Kind. Das lange Leben und die Macht seines Vaters hatten ihn wie ein fröhliches Kind bleiben lassen — fröhlich, solange alles gut ging, verstockt und trotzig, wenn er seinen Willen nicht bekam. Er würde Mutter Hildebrande nicht retten, wenn Alys ihn darum bat. Es war ihm nicht wichtig genug. Nicht für sie — eine arme alte Frau, die letztes Jahr schon hätte sterben sollen. Nicht für Alys.
Ein paar Männer schliefen ihren mittäglichen Bierrausch in der Halle aus. Alys ging leise an ihnen vorbei. Einer von ihnen drehte sich im Schlaf, sah sie und bekreuzigte sich. Immer noch haftete ihr Aberglauben an. Sie durfte nicht
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