Die weise Frau
Kerze an Sie ging langsam, widerwillig zum Bett und dachte an die kleine Puppe von Hugo, die sie mit solcher Entschlossenheit und Wut geformt hatte, als sie nur eines wollte: von ihm in Ruhe gelassen werden. Sie hatte seinen Mund geglättet und ihm befohlen, sie nicht zu rufen. Sie hatte die Fingerspitzen weggerieben und ihm befohlen, sie nicht zu fühlen. Sie hatte seine Augäpfel zerkratzt und ihm befohlen, sie nicht zu sehen. Und jetzt träumte Hugo, seine Finger würden schmelzen, und er hatte bereits einen Hirsch mit der Armbrust verfehlt.
Sie setzte sich auf das Bett. Sie machte sich nicht die Mühe, das Licht abzudecken. Die Gewißheit, daß es ihn nicht wecken würde, war tief und kalt wie der Tod: Er würde den Schein nicht durch seine geschlossenen Augenlider sehen können. Sie nahm seine Hand und hielt sie so nahe an die Kerze, daß sie klar sehen konnte, was sie zu sehen fürchtete.
Die Spitzen seiner Finger waren stumpf, als hätte man sie abgehackt. Hugos lange, starke Hände waren kürzer, das letzte Glied jedes Fingers unproportioniert abgestumpft. Seine Fingernägel waren kurz, eckig, wie grob weggefeilt, kürzer als die Fingerkuppen, abgeschnitten. Alys erschauderte. Seine Hände sahen aus, als hätte jemand jeden Finger gestutzt.
Sie drehte seine Hand um und sah sie an, als würde sie ihm aus der Hand lesen. Die Spitzen der Finger waren glatt wie die Haut seines schlafenden, lächelnden Gesichtes. Die Zeichnung der Haut war verschwunden. Kein Mal war zu entdecken, nur glatte rosa Haut. Alys stöhnte leise und blieb mit seiner verkrüppelten Hand im Schoß eine Weile sitzen.
Sie beugte sich vor und hielt die Kerze hoch, um seine Ohren sehen zu können. Sie waren bereits winzig, die Ohren eines Kindes. Nur Hugos lange Haare und die Kappen, die er immer trug, hatten verhindert, es eher zu bemerken. Sie schaute seine Lippen an. Das scharfe Profil seiner Oberlippe war verschwommen. Der attraktive, zum Küssen einladende Schwung seiner Oberlippe und die scharf vorstehende Unterlippe waren geschmolzen. Nur der Schatten der dunklen Bartstoppeln zeigte, wo sein Lippenansatz war. Die Kerze flackerte in Alys' zitternder Hand. Von einem plötzlichen Impuls getrieben, beugte sie sich über ihn und schüttelte ihn sanft.
»Mach deine Augen auf, Hugo«, sagte sie leise. »Mach kurz deine Augen auf!«
Er rollte weg, im Schlaf murmelnd, aber als sie ihn wieder schüttelte, öffneten sich seine Augenlider, obwohl er noch träumte. Alys sah sie sich genau an. Über beiden Pupillen lag ein leichter grauer Schleier.
Alys ließ ihn weiterschlafen und stellte vorsichtig den Kerzenleuchter auf den Tisch neben dem Bett, dann glitt sie neben ihm ins Bett, türmte die Kissen gegen das schwere, geschnitzte Kopfteil und blieb aufrecht sitzen. Sie fror, und ihre Haut war schneeweiß, aber sie machte keine Anstalten, sich die Decke über die Schultern zu ziehen oder sich neben Hugos zufriedene, schläfrige Wärme zu legen. Alys saß aufrecht in ihrem prächtigen Bett, den jungen Lord neben sich, der den Arm liebevoll um sie gelegt hatte, und wartete auf den neuen Tag. Ihr Gesicht war so grimmig und ängstlich, wie das ihrer verratenen Mutter Morach immer gewesen war.
Am Morgen konnte es Hugo kaum erwarten, zur Jagd loszureiten. Stephen hatte ihm eine neues Pferd mitgebracht, und er wollte es ausprobieren. Der Tag war sonnig, und später würde es zu heiß sein für scharfe Ritte. Außerdem mußte er wegen des Gerichts am Nachmittag früh wieder zurücksein. Alys' blasses, übernächtigtes Gesicht bemerkte er kaum.
»Geht's dir gut?« fragte er an der Tür, nur mit seinem Hemd bekleidet. »Bist du gesund, Alys?«
Sie blinzelte ihn an, ihre blauen Augen waren müde und blutunterlaufen von der langen Nachtwache. »Ich hab geträumt«, sagte sie. »Schlimme Träume.«
»Mein Gott, das hab ich auch!« Jetzt erinnerte sich Hugo. »Ich hab geträumt, meine Finger wären weg. Wie bei einem Aussätzigen! Was für ein Greuel!«
Alys versuchte, sein erleichtertes Grinsen zu erwidern, aber sie schaffte es nicht. »Zeig mir deine Finger«, sagte sie. »Zeig sie mir.«
Hugo lachte. »Es war nur ein Traum, mein Schatz! Schau!«
Er kam zurück ins Zimmer und reichte Alys seine rechte Hand. Im hellen Morgenlicht, das durch die Schießscharte fiel, sah sie sich seine Handrücken an. Die Fingernägel waren perfekt, glatt und kräftig, die Finger lang und gut proportioniert.
Alys atmete erleichtert auf und drehte die Hand um. An
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