Die weise Frau
sein eigenes Brandzeichen — aber alle gehörten Lord Hugh.
Der Fluß führte Hochwasser, war ein reißender Strom, der über die Ufer trat und die Wiesen in riesige Wasserflächen verwandelte. Alys ritt am Ufer entlang, lauschte dem Gurgeln und Rauschen des Wassers und lachte, als das Pony vor einer Pfütze scheute. Holzstückchen und Unkraut schwammen in dem torfigen Wasser, und am Ufer sprudelten und gurgelten die Quellen wie Kochtöpfe und spuckten noch mehr Wasser aus, das stromabwärts abfloß. Die Efeuranken auf den bröckelnden Mauern trugen dicke, schwarze Beeren, die Früchte der Eschen funkelten scharlachrot, und das Grau und Grün des schwachen Wintergrases war mit kleinen braunen Pilzen übersät. Alys gab dem alten Pony die Fersen, worauf dieses zu ihrer Überraschung losgaloppierte. Sie saß entspannt im Sattel und genoß den Wind auf ihrem Gesicht, der ihr die Kapuze vom Kopf streifte.
Die grauen Steinquader der Brücke kamen in Sicht, dahinter staute sich das Wasser jetzt zu einem riesigen Teich, glänzend wie frisch poliertes Zinn. Morachs Hütte stand wie eine winzige Arche auf einem kleinen Hügel über dem Hochwasser. Alys stellte sich in die Steigbügel und schrie: »Heija! Morach!« So stand Morach auf der Schwelle, die Hand zum Schutz vor der flachen Wintersonne über die Augen gelegt, als Alys herantrabte.
»Was ist denn das?« fragte sie ohne ein Wort des Grußes.
»Nur eine Leihgabe«, sagte Alys achtlos. »Ich komme nicht zurück, ich darf dich nur heute abend besuchen. Und ich muß mit dir reden.«
Morachs scharfe dunkle Augen musterten Alys' Gesicht. »Der junge Lord Hugo«, sagte sie.
Alys nickte, fragte aber nicht, wie Morach das erraten hatte. »Ja«, sagte sie. »Und der alte Lord hat mir verboten, ihm etwas zu geben, was seine Lust tötet.«
Morach hob ihre schwarzen Augenbrauen und nickte. »Sie brauchen einen Erben«, sagte sie. »Du kannst das Tier vor dem Tor anbinden, ich will es nicht in der Nähe meiner Kräuter haben. Komm herein.«
Alys band das Pony an einen verkrüppelten Weißdornbusch, der neben Morachs Eingang wuchs, hob ihr rotes Gewand hoch, um es vor Schmutz und Schlamm zu schützen, und trat in die Hütte.
Sie hatte den Gestank vergessen. Morachs Misthaufen lag zwar im Gegenwind hinter der Hütte, aber der süßlich faulige Geruch von Kot und Urin schwebte überall. Der Misthaufen war so alt wie die Hütte und hatte schon immer erbärmlich gestunken. Das kleine Feuer aus nassem Holz flackerte lustlos, und die kleine Hütte war von schwarzem Rauch erfüllt. Ein paar Hennen stoben auseinander, als Alys eintrat, ihr Kot lag auf dem Rand der Feuerstelle. Der Boden unter Alys neuen Lederschuhen war glitschig. Das nur wenige Meter entfernte Hochwasser machte sogar die Luft naß und kalt. Bei Einbruch der Dämmerung würde dann der Dunst durch das Flußtal aufsteigen und unter der Tür durch das kleine Fenster dringen. Alys raffte ihren neuen Umhang enger um sich und setzte sich ungefragt neben das Feuer auf Morachs Stuhl.
»Ich habe dir etwas Geld gebracht«, sagte sie ohne Umschweife. »Und einen Sack voll Lebensmittel.«
Morach nickte. »Gestohlen?« fragte sie gleichgültig.
Alys schüttelte den Kopf. »Er hat es mir gegeben«, sagte sie. »Der alte Lord. Und die Kleider auch.«
Morach nickte. »Ein sehr vornehmes Kleid«, sagte sie. »Vornehm genug für Lady Catherine. Vornehm genug für Lord Hughs Hure.«
»Dafür halten sie mich auch«, sagte Alys. »Aber er ist alt, Morach, und er war sehr krank. Er berührt mich nicht. Er ist...« Sie verstummte, als es ihr plötzlich klar wurde. »Er ist gut zu mir, Morach.«
Morach zog ihre dunklen Augenbrauen nach oben. »Das ist aber dann das erste Mal in seinem Leben«, sagte sie nachdenklich. »Gut? Bist du sicher? Vielleicht führt er etwas mit dir im Schilde.«
Alys überlegte. »Könnte sein«, sagte sie. »Ich habe noch keinen Mann erlebt, der so weit im voraus plant. Er hat an alles gedacht, angefangen von seinem Totenbett bis zum Tod des Sohnes des Jungen Lords, der noch nicht einmal gezeugt ist. Er hat mir eine Rolle in seinen Plänen zugedacht — ich muß jetzt für ihn arbeiten, er braucht einen Sekretär, der ein Geheimnis bewahren kann, und er sorgt für mein sicheres Geleit in ein Kloster, wenn meine Arbeit beendet ist.« Sie verstummte und stellte sich Morachs skeptischen schwarzen Augen. »Es ist meine einzige Chance. Er hat versprochen, daß er mich nach Frankreich in ein Nonnenkloster
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