Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
der Weltraumfähre ernsthaft beschädigt haben könnte.
Ohne einen solchen Advocatus Diaboli könnten die Gruppendiskussionen das MMT wahrscheinlich sogar noch in seiner falschen Vorgehensweise bestärkt haben. Der Grund dafür liegt im Phänomen der so genannten Gruppenpolarisierung. Wir denken für gewöhnlich, dass Beratungen rationale und gemäßigte Urteile garantieren; wir nehmen an, dass Menschen umso weniger extremen Positionen zuneigen, je länger sie über eine Sache debattieren. Studien zu Geschworenenjurys und zahllose Experimente der vergangenen drei Jahrzehnte deuten jedoch eher auf das Gegenteil hin.
Die Gruppenpolarisierung ist bis heute ein ziemlich rätselhaftes Phänomen. Es gibt offenkundig Situationen, in denen es sich kaum oder überhaupt nicht auswirkt. Unter gewissen Umständen aber führen Diskussionen, wie Soziologen seit den sechziger Jahren immer wieder demonstriert haben, nicht zu einer Mäßigung, sondern zur Radikalisierung von Standpunkten. Solche Studien galten anfangs der Erforschung menschlicher Risikobereitschaft. Dazu wurden Personen befragt, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten würden. So wurde ihnen beispielsweise folgende Frage gestellt: »Wie sollte jemand mit einer schweren Herzerkrankung sich entscheiden, wenn ihm mitgeteilt wird, er müsse seinen Lebenswandel komplett ändern oder sich einer Operation unterziehen, die ihn entweder heilt oder unter die Erde bringt?« Oder: »Ein Elektroingenieur hat eine sichere, aber schlecht bezahlte Stelle. Ihm wird eine andere Stelle angeboten, wo er beträchtlich mehr verdienen, die ihm allerdings auch weniger Sicherheit bieten würde. Sollte er die Stelle wechseln?« Die Fragen wurden zunächst Einzelnen vertraulich gestellt. Anschließend wurden Gruppen gebildet, die die Fragen kollektiv beantworten sollten. Die Forscher waren anfangs der Auffassung, dass Gruppendiskussionen bei Menschen eine Neigung zu radikaleren Positionen, also einen »Risikoumschlag«, bewirken. Mit der Zeit wurde dann aber deutlich, dass der Umschlag in beide Richtungen gehen konnte. War eine Gruppe aus allgemein risikoscheuen Personen zusammengesetzt, so wurden sie durch eine Diskussion noch vorsichtiger; risikofreudige tendierten in einer Gruppe zu noch waghalsigeren Positionen. Andere Untersuchungen zeigten, dass Leute mit einer pessimistischen Zukunftserwartung nach Diskussionen noch viel pessimistischer wurden. Und in amerikanischen Zivilrechtsprozessen gewähren Geschworene mit einer Neigung, bei Klagen auf Schadenersatz hohe Summen festzusetzen, den Klägern nach der Beratung in der Jury im Allgemeinen noch höhere Beträge.
In jüngerer Zeit hat der Juraprofessor Cass Sunstein von der Chicago University der Polarisierung viel Aufmerksamkeit gewidmet. Wie sein Buch Why Societies Need Dissent [»Warum Gesellschaften den Dissens brauchen«] zeigt, ist dieses Phänomen sehr viel verbreiteter als früher angenommen, und es kann gravierende Folgen zeitigen. Als Daumenregel gilt: Diskussionen tendieren dahin, Gruppen insgesamt wie auch ihre einzelnen Mitglieder in Richtung extremerer Positionen zu bewegen, als sie vor Beginn der Gespräche bezogen haben.
Wie kommt es nun aber zu solcher Polarisierung? Zum einen, weil Menschen sich stark vom »gesellschaftlichen Vergleich« leiten lassen – und dabei geht es um sehr viel mehr als um das gewöhnliche (und selbstverständliche) Phänomen, dass jedermann sich permanent mit allen anderen vergleicht. Hier geht es nämlich darum, dass man sich andauernd mit den anderen vergleicht, um sich der eigenen Position innerhalb der Gruppe zu versichern. Konkreter gesagt: Wenn man mit dem eigenen Standpunkt anfangs eine mittlere Position in der Gruppe bezieht, dann aber den Eindruck gewinnt, die Gruppe habe sich sozusagen nach »rechts« bewegt, neigt man dazu, persönlich ebenfalls nach »rechts« zu wechseln, weil man so – das heißt im Verhältnis zu den anderen – seinen »Standort« innerhalb der Gruppe wahrt. Damit bestärkt man natürlich wiederum den Rechtsdrall der ganzen Gruppe, und auf diese Weise entwickelt das Phänomen des gesellschaftlichen Vergleichs eine Eigendynamik, die schlussendlich zur objektiven Bestätigung einer subjektiven Wahrnehmung führt.
Nun ist freilich zu beachten, dass eine solche Polarisierung mitnichten eine bloße Folge des Bemühens Einzelner um Übereinstimmung mit ihrer Gruppe ist. Sie ergibt sich seltsamerweise gerade auch aus ihrem Bestreben, alles zu tun, um die
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