Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
erfolgreiche Unternehmen in gewissem Sinne alle auf die gleiche Art und Weise arbeiteten. Erstens: Ein Unternehmen war vertikal integriert, das heißt, dass es die totale Kontrolle über nahezu seine gesamte Versorgungskette ausübte. Dabei gingen wenige so weit wie Henry Ford, der darauf bestand, dass die Ford Motor Company sogar die zur Automobilherstellung benötigten Rohstoffe wie Eisenerze und Sande in Eigenregie abbaute; alles in allem herrschte jedoch immerhin die feste Überzeugung, dass ein Unternehmen auch sämtliche für seine Erzeugnisse erforderlichen Teile, so weit wie nur eben möglich, selbst produzieren sollte. Zweitens bestand die Hierarchie eines Unternehmens aus vielen Managementebenen, deren jede für die nächstuntere verantwortlich war. Jede Managementebene konnte gewisse Aufgaben selbstverantwortlich wahrnehmen; schwierigere, komplexere oder Aufgaben mit Aspekten, die weiter reichten, wurden dagegen nach oben, in die Hände einer wichtigeren (und mutmaßlich kompetenteren) Person delegiert. Und drittens war das Gros der Unternehmen des 20. Jahrhunderts zentralisiert – was keineswegs immer bedeutete, dass die Zentrale sämtliche Entscheidungen der einzelnen Unternehmensbereiche vorwegnahm. Ja, der für den Unternehmenstypus des 20. Jahrhunderts prägende Konzern – General Motors – rühmte sich geradezu seiner dezentralen Struktur, da jeder seiner Bereiche – Buick, Chevrolet, Cadillac – im Rahmen der Tagesarbeit im Grunde wie ein eigenständiges Unternehmen geführt wurde. Die Zentrale entschied lediglich über Fragen, welche die strategische Ausrichtung oder die Struktur von General Motors betrafen. Das für den Konzern alten Stils generell ausschlaggebende Moment lag jedoch wohl in Folgendem: Schlussendlich befand sich die Entscheidungsmacht in der Hand einiger weniger Personen, häufig sogar eines einzigen Mannes: beim Chief Executive Officer (CEO) oder Vorstandsvorsitzenden.
Da kommt nun allerdings ein fundamentaler Widerspruch zum Vorschein. Denn je hierarchischer, je zentralisierter und je verknöcherter amerikanische Unternehmen wurden, desto mehr ergingen sie sich in hohlen Phrasen, die hierarchische Strukturen als tyrannisch und schädlich geißelten. Die Vorstellung, die in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu einem Leitmotiv der Wirtschaft wurde – dass eine Arbeitermitbestimmung für den Erfolg eines Unternehmens unabdingbar sei -, ist seit nahezu einem Jahrhundert ein Dauerthema von Managementgurus. So haben beispielsweise etliche Konzerne schon in den zwanziger Jahren ihren Arbeitern und Angestellten Gewinnbeteiligung und Aktionärsstimmrechte eingeräumt. Etwa ein Jahrzehnt später behauptete die von dem Soziologen Elton Mayo ins Leben gerufene Human-Relations-Bewegung, den Nachweis erbracht zu haben, dass die Arbeiter zufriedener und produktiver seien, wenn sie für ihre Nöte und Sorgen beim Management Gehör zu finden glaubten. (Rückblickend scheinen Mayos Studien allerdings nur zu beweisen, dass die Arbeiter zufriedener und produktiver waren, wenn das Management ihnen Lohnerhöhungen gewährte.) Und in den Fünfzigern – sie gelten heutzutage als Glanzzeit der altvorderen, bürokratischen Firmenstruktur – herrschte eine fast manische Tendenz, innerbetrieblich Teams und Ausschüsse zu bilden sowie Sitzungen zu veranstalten. Das Buch The Organization Man – die klassische Kritik am Konformitätsdenken der Mittelschichten – entstand nicht zuletzt aus der Verzweiflung seines Verfassers William H. Whyte, der die Überschätzung solcher Gruppen in den Unternehmen nicht nachvollziehen konnte. Whyte zufolge waren die Konzerne einer maßlosen Überbewertung des mittleren Managements zum Opfer gefallen. »Idealisiert werden nicht die Wirtschaftsführer«, so schrieb er damals, »sondern vielmehr die subalternen Manager.«
Rhetorisch bekannte sich das Gros der US-Konzerne dezidiert zu kollektiven Entscheidungen. Freilich zeigten sie kaum Interesse, solche Rhetorik in die Tat umzusetzen – im Grunde versuchten sie es erst gar nicht. Kollektive Entscheidung wurde von ihnen allzu oft als Bemühen um Konsens missverstanden – was Whyte zu Recht besonders heftig anprangerte. Konsens hat nichts mit der Weisheit der Menge zu tun. Das Suchen nach Konsens begünstigt bloß ausgesprochen fade Problemlösungen auf Basis des niedrigsten gemeinsamen Nenners, die niemand vor den Kopf stoßen, aber auch keinerlei Begeisterung wecken. Statt einen freien Austausch von
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