Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
hätte am Ende des Fließbands der Teppich des Wagens herausgerissen und der Halter gesondert angeschweißt werden müssen. »Ich habe sie beiseite genommen und ihnen erklärt: ›Nun schaut euch mal an, was passiert, wenn ihr so etwas auslasst‹«, berichtete der Aufseher Maryann Keller. »Doch die Mechanikerin machte ihnen vor, wie sie die komplette Teppicheinlage herausreißen musste. Sie waren entsetzt. Und die Mechanikerin meinte erstaunt: ›Wollen Sie mir vielleicht sagen, dass dieser Halter zur Befestigung des Sonnenschutzes dient?‹ Sie verrichtete diese Arbeit bereits seit zwei Jahren, und niemand hatte es für nötig befunden, ihr zu erklären, was für ein Teil sie da eigentlich anschweißte.«
Die Hauptschwierigkeit eines starr hierarchischen, vielstufigen Unternehmens bestand – und besteht – wohl darin, dass es den freien Informationsfluss hemmt, nicht zuletzt deswegen, weil jeder der zahlreichen Chefs sich als Stolperstein oder künftiger Feind erweisen konnte. Thomas J. Peters und Robert H. Watermans Buch In Search of Excellence (1982) enthält das bemerkenswerte Organogramm eines nicht genannten Unternehmens; es veranschaulicht, wie viele verschiedene bürokratische Stufen eine neue Produktidee zu durchlaufen hatte, bis ihr die Genehmigung erteilt wurde. Es waren 223! Bei so vielen Ebenen zwischen den Leuten in der Führungsetage und den Arbeitern vor Ort fiel es den Spitzenmanagern schwer zu wissen, ob die Vorstellung, die sie sich vom Unternehmen gemacht hatten, der Realität entsprach.
Es kann nur einen Grund geben, tausende Menschen in einem Unternehmen zu organisieren – damit sie gemeinsam produktiver und intelligenter arbeiten. Dazu müsste der Einzelne sich dann aber genauso um solide Informationen und ihre Nutzung bemühen, wie wenn er ein kleines Geschäft führte, das sich auf dem Markt zu behaupten hat. Die gängigen Methoden zum Leistungsanreiz wirkten – und wirken – sich jedoch in allzu vielen Unternehmen so aus, dass abweichende Meinungen und eine unabhängige kritische Betrachtung der Dinge abgeblockt werden. So wies eine Studie des Jahres 1962 über junge leitende Angestellte nach: Je stärker sie um die weitere Karriere besorgt waren, »desto ungenauer kommunizierten sie problembezogene Informationen« – ein kluges Verhalten, denn eine andere Untersuchung betreffs 52 Personen des mittleren Managements brachte folgende Erkenntnis: Es besteht eine enge Beziehung zwischen einem beruflichen Aufstieg und dem Verschweigen von Fehlern und Problemen dem Chef gegenüber. Die erfolgreichsten leitenden Angestellten neigten dazu, Informationen über Rivalitäten, Auseinandersetzungen, Schwierigkeiten bei der Einhaltung von Budgets und dergleichen zurückzuhalten.
Und da tat sich ein weiteres fundamentales Problem auf: der Mangel an Diversität – nicht nur in kognitiver Hinsicht – unter Topmanagern. Es wurde noch dadurch verschärft, dass die meisten amerikanischen Großunternehmen keiner (oder nicht nennenswerter) Konkurrenz aus dem Ausland oder von kleineren Firmen des eigenen Landes ausgesetzt waren. Nur so lässt sich übrigens auch die Entscheidung von Ford in den späten fünfziger Jahren begreifen, hunderte Millionen Dollar in den Edsel zu investieren – in ein Automodell, für das kein Kundeninteresse bestand. Nur so wird auch verständlich, warum amerikanische Unternehmen in den Siebzigern und Achtzigern erstaunlich wenige Management- oder Produktinnovationen einführten. Den Spitzenmanagern fehlte schlicht die Erfahrung des Wettbewerbs; sie waren von externen Entwicklungen, neuen Denkansätzen und Perspektiven abgeschottet. In der abgeschiedenen Atmosphäre ihrer Führungssuiten verloren sie jeglichen Zugang zu der Art von Informationen, die für brauchbare Zukunftsprognosen und Lösungen von Organisationsproblemen nun einmal unerlässlich sind. Sie merkten schließlich überhaupt nicht mehr, wenn sich etwas gegen sie zusammenbraute, bis es faustdick kam. In den frühen siebziger Jahren begannen japanische und westdeutsche Firmen dann erheblich bessere Produkte sehr viel schneller als US-Unternehmen auf den Markt zu bringen und tatsächlichen Kundenbedürfnissen größere Beachtung zu widmen. Die komplizierten Managementhierarchien, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs – in einer Zeit, als die amerikanischen Konsumenten aufgrund eher geringer Konkurrenzangebote kaum zwischen Alternativen wählen konnten – brauchbar gewesen sein mochten, waren wenig geeignet, um
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