Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
noch einmal befragt. Man wollte feststellen, wie die Diskussionen sich ausgewirkt hatten.
Das Projekt mit der umständlichen Bezeichnung »National Issues Convention Deliberative Poll« war eine Idee des Politologen James Fishkin von der Universität Texas. Fishkin erfand die »deliberative Meinungsumfrage« aus einer Enttäuschung und Verärgerung über die begrenzten Daten der herkömmlichen Meinungsforschung und aus dem Gefühl heraus, dass Amerikaner entweder nicht die nötigen Informationen oder aber keine Gelegenheit hätten, intelligente politische Entscheidungen zu treffen. Deliberative Umfragen sind seither in Hunderten von Großstädten in aller Welt durchgeführt worden. Geboren wurden sie aus dem Gedanken, dass die politische Diskussion nicht auf Spezialisten oder Angehörige der politischen Klasse beschränkt bleiben dürfte und dass dazu auch keine Notwendigkeit besteht.
Bei hinreichenden Informationen und der Chance, die Dinge mit ihresgleichen zu bereden, sind gewöhnliche Bürger sehr wohl in der Lage, komplizierte Sachverhalte zu verstehen und sinnvoll zwischen verschiedenen Standpunkten zu wählen.
Fishkin möchte deliberative Umfragen landesweit zu einer regulären Einrichtung machen. Da sie ein genaueres Bild von den Ansichten der amerikanischen Wähler vermitteln, wäre es für Politiker sinnvoller, mehr ihnen als den Umfragen herkömmlicher Meinungsforschungsinstitute Beachtung zu schenken. Das ist ein surreales Projekt; nicht zuletzt sind deliberative Umfragen auch zu zeitaufwändig und zu kostspielig. (Und möglicherweise ist amtierenden Politikern auch gar nicht daran gelegen, dass die Wähler besser informiert sind.)
Die Idee einer »deliberativen Demokratie«, wie Fishkin sie gemeinsam mit dem Juristen Bruce Ackerman, einem Juraprofessor der Unversität Yale, propagiert, bietet sich als Zielscheibe für Kritik geradezu an. Der Richter Richard Posner spöttelt über die Erwartung, dass solche politischen Diskussionsveranstaltungen Amerikaner zu Vorbildern von Vernunft und Bürgertugend machen könnten. »Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten bildet eine zutiefst philisterhafte Gesellschaft«, schreibt er in seinem Buch Law, Pragmatism, and Democracy . »Die Bürger haben wenig Geschmack an Abstraktionen, wenig Zeit und noch weniger Neigung, einen beachtlichen Teil ihrer Freizeit damit zu verbringen, sich zu informierten und zu verantwortungsbewussten Wählern auszubilden.« Und weiter: »Es ist sehr viel schwieriger, sich eine solide Vorstellung von dem für die ganze Gesellschaft Notwendigen zu machen, als sich darüber im Klaren zu sein, wo die eigenen Interessen liegen.«
Posner und die deliberativen Demokraten sind jedoch vor allem unterschiedlicher Meinung in der Frage, wozu die Demokratie da ist und was wir von ihr erwarten dürfen. Haben wir eine Demokratie, weil sie den Menschen ein Gefühl vermittelt, in alles einbezogen zu sein und ihr Leben selbst bestimmen zu können, und sie darum zur politischen Stabilität beiträgt? Haben wir eine Demokratie, weil die Bürger das Recht haben, sich selbst zu regieren, auch wenn sie dieses Recht auf lächerliche Weise nutzen? Oder haben wir eine Demokratie, weil die Demokratie ein ausgezeichnetes Instrument darstellt, um intelligente Entscheidungen zu treffen und die Wahrheit aufzudecken?
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Formulieren wir diese Frage zunächst einmal um: Wozu ist die Demokratie nach Meinung der Wähler da? Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts bot sich eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern der Politologie zum Suchen nach einer Antwort darauf an. Sie wollten die Methoden, die sie zur Untersuchung der Funktionsweise von Märkten entwickelt hatten, nutzen, um zu verstehen, wie Politik funktioniert. Der unausgesprochene Ausgangspunkt für die meisten Analysen des Marktes ist selbstverständlich die Verfolgung eigener Interessen. Märkte funktionieren, indem sie die Suche der Einzelnen nach dem eigenen Nutzen für kollektiv nützliche Ziele einspannen. Es war darum für diese neuen Erforscher des politischen Lebens ganz natürlich, davon auszugehen, dass alle politischen Akteure – Wähler, Politiker, Ordnungshüter – letztlich durch eigene Interessen motiviert werden. Die Wähler wollen nicht etwa einen Kandidaten durchsetzen, der sich um das Land als Ganzes kümmert (außer wenn es ihr persönliches Wohlergehen berührt), sondern einen, der sich ihrer Belange annimmt. Die Politiker wollen vor allem wiedergewählt werden, weswegen
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