Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
sie für Gesetze und Vorlagen primär nicht deshalb stimmen, weil sie ihrer Meinung nach dem Land am besten dienen, sondern weil sie glauben, damit die Wähler für sich gewinnen zu können – was oft dazu führt, dass sie einer Politik berechneter Geldzuwendungen huldigen und die Interessen von mächtigen Lobbygruppen berücksichtigen. Ordnungshüter möchten ihre Position sichern und über größere Mittel verfügen; folglich übertreiben sie die Bedeutung ihrer Arbeit und suchen immer neue Wege, um den Rahmen ihrer Aufgaben zu erweitern. Und anders als im Markt wirkt sich solch eigennütziges Verhalten in der Politik nicht unbedingt zum Nutzen der Allgemeinheit aus. Die erwähnten Wirtschaftswissenschaftler sahen einen Regierungsapparat, der sich ständig bloß vergrößerte und seine Kompetenzen ausbaute. (Jedes seiner Mitglieder hatte ein persönliches Motiv, noch etwas mehr vom Staatskuchen abzubekommen, keines beachtete die Belange der Allgemeinheit.) Sie sahen Behörden, die bequeme Arrangements mit Wirtschaftszweigen eingingen, die sie zu regulieren hatten, sodass die Wirtschaftspolitik die Interessen mächtiger Gruppen förderte.
Diese Wissenschaftler vertraten die so genannte »Publicchoice«-Theorie – ein Ideengemenge, das bemerkenswert scharfsichtig und zugleich bemerkenswert beschränkt wirkte. Mit ihrer Darstellung einer Politik der Interessengruppen, ihrer Einsicht in das Ausmaß, in dem Langzeitprobleme zugunsten kurzfristiger politischer Überlegungen verdrängt wurden, und ihrer Deutung, wie viele Regulierungen in Wahrheit den Interessen der regulierten Unternehmen dienten, lieferten sie eine Erklärung für den unter Amerikanern weit verbreiteten Frust über die Regierung. Andererseits: Sie übersahen eindeutig ein paar äußerst wichtige Fakten mit ihrer Vorannahme, dass Prinzipien und das öffentliche Interesse in der Politik überhaupt nichts zu suchen hätten, dass die Wähler bei der Abgabe ihrer Stimmzettel lediglich an die spezielle eigene Situation und nicht im Geringsten an umfassendere soziale und politische Fragen dachten und dass Interessengruppen eine nahezu komplette Kontrolle über den gesetzgeberischen Prozess ausüben. Für diese Theoretiker war die Sachlage ganz einfach. Um James Buchanan und Gordon Tullock zu zitieren: »Das durchschnittliche Individuum handelt auf der Grundlage des gleichen übergreifenden Werterahmens, wenn es an einer Aktivität des Marktes teilnimmt und politisch aktiv ist.« Das war jedoch schlicht eine Behauptung, die sie nicht nachweisen konnten. Die Gegenposition, dass unterschiedliche Aktivitäten bei Menschen unterschiedliche Wertvorstellungen und Verhaltensweisen bewirken, war mindestens genauso plausibel. Behandeln wir unsere Familienangehörigen etwa in der gleichen Weise wie unsere Kunden?
Der springende Punkt ist nicht der, dass der Eigennutz bei Wählern keine Rolle spielt. Um hier nur etwas ganz Offenkundiges zu erwähnen: Selbst wenn jemand für den Kandidaten stimmt, der nach seiner Auffassung die Belange des ganzen Landes am besten vertreten wird, wird sein Eigeninteresse sich doch bei den Faktoren auswirken, die einen Kandidaten in seinen Augen als starken oder schwachen Kandidaten ausweisen. Natürlich wäre es sinnlos, Politik völlig abstrakt und neutral zu betrachten. Aber das heißt noch lange nicht, dass die Wählerentscheidung durch rein persönliche Interessen bedingt ist. Schon die Tatsache, dass jemand überhaupt wählen geht, zeigt, dass er nicht ausschließlich von egoistischen Motiven geleitet wird. In amerikanischen politischen Kreisen mag das Jammern über niedrige Wahlbeteiligungen ja normal, eine Pflichtübung sein. Aus der Sicht eines Ökonomen ist es erstaunlich, dass sich überhaupt jemand die Mühe macht zu wählen. Die eigene Stimme hat praktisch null Chance, den Ausgang der Wahlen zu ändern; und für die meisten Menschen haben alle Politiker – selbst der US-Präsident – nur einen ziemlich geringen Einfluss auf das tägliche Leben. Wenn aber meine Stimme keine Rolle spielt und es auch ziemlich egal ist, wer bei der Wahl gewinnt – warum soll ich dann wählen?
Die »Public-choice«-Theoretiker haben eine menschliche Grundneigung zu wählen nach besten Kräften wegzuerklären gesucht. So erklärte beispielsweise William Riker, dass die Menschen mit dem Wahlgang öffentlich ihre »parteiliche Vorliebe« bekunden und ihre »Teilnahme am politischen System« bekräftigen, statt den Ausgang einer Wahl beeinflussen
Weitere Kostenlose Bücher