Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
Hälfte der amerikanischen Bevölkerung die Sowjetunion als Mitglied der NATO. Ist es angesichts all dessen wirklich vorstellbar, das die amerikanischen Wähler vernünftige politische Entscheidungen treffen?
Nun ja, vielleicht nicht. Aber darum geht es in der repräsentativen Demokratie gar nicht. In einer repräsentativen Demokratie wie der unsrigen lautet die entscheidende Frage: Ist es wahrscheinlich, dass die Amerikaner den Kandidaten wählen, der die richtigen Entscheidungen trifft? Und das ist mehr als wahrscheinlich. Die Tatsache, dass die Amerikaner nicht wissen, wie viel Geld die Vereinigten Staaten für Auslandshilfe ausgeben, ist kein Zeichen mangelnder Intelligenz, sondern ein Indiz für mangelnde Information, das wiederum auf mangelndes Interesse an politischen Details deutet. Ein wesentlicher Punkt der repräsentativen Demokratie besteht jedoch darin, dass sie politisch im Kognitiven die gleiche Art von Arbeitsteilung erlaubt, die in den übrigen Bereichen der Gesellschaft gegeben ist. Politiker können sich spezialisieren und sich jene Kenntnisse aneignen, welche sie zu wohl überlegten Entscheidungen benötigen, und die Bürger können die Politiker überwachen und beurteilen, wie solche Entscheidungen sich auswirken. Es stimmt zwar, dass manche Entscheidungen nie auffallen und andere falsch interpretiert werden. Doch Entscheidungen, die konkret ins Leben der Bürger eingreifen – und das heißt: die wichtigsten Entscheidungen -, werden nicht übersehen, und in diesem Zusammenhang ist ein Wesenselement einer stabilen Demokratie der Wettbewerb. Im Wettbewerb werden Politiker eher vertretbare Entscheidungen treffen, weil sie eher damit rechnen müssen, nach falschen Entscheidungen abgestraft zu werden.
Eine reflexartige Reaktion auf die offenkundigen Mängel der Demokratie ist die Forderung, dass es uns allen besser gehen würde unter einer Führung durch technokratische Eliten, die objektiver zu urteilen und dem Gemeinwohl mehr Augenmerk zu widmen vermöchten. Aber in einem gewissen Maße werden wir ja längst von einer technokratischen Elite regiert; man denke nur an die bedeutende politische Rolle von nicht demokratisch gewählten Regierungsmitgliedern wie Donald Rumsfeld. Und man würde sich wahrlich schwer tun mit der Behauptung, dass Eliten gewöhnlich weiter über ihren weltanschaulichen Tellerrand blickten oder das imaginäre Gemeinwohl fest im Auge hätten. Einer isolierten, nicht demokratisch gewählten Elite die richtigen politischen Entscheidungen zuzutrauen wäre in Anbetracht aller Erkenntnisse über Gruppendenken, Gruppendynamik und die Folgen fehlender Vielfalt in Gruppen eine törichte Strategie.
Zudem geht die Idee, dass man zur Lösung komplexer Aufgaben einfach nur »die Experten fragen« muss, davon aus, dass die Experten übereinstimmende Antworten geben werden. Dem ist aber nicht so; falls dem aber so wäre, würde die Öffentlichkeit doch wohl auf ihre Ratschläge hören. Eliten sind genauso parteiisch und dem Gemeinwohl nicht mehr verpflichtet als der Durchschnittswähler. Ausschlaggebend ist im Übrigen folgender Gesichtspunkt: Wenn man den Umfang und die Größe einer Entscheidungsgruppe verringert, mindert man auch die Wahrscheinlichkeit, dass ihre letzthinnige Entscheidung die richtige ist. Und bei politischen Entscheidungen geht es nicht darum, wie etwas erledigt werden sollte, sondern darum, was zu tun ist, und um die Wahl, in welcher Art von Gesellschaft die Menschen leben sollten. Es besteht kein Anlass, Experten in solchen Fragen mehr Kompetenz zuzutrauen als dem durchschnittlichen Wähler. Thomas Jefferson jedenfalls hielt Experten da sogar für eher weniger geeignet. »Man stelle einen Bauern und einen Professor vor eine moralische Frage«, hat Jefferson geschrieben. »Ersterer wird sie ebenso trefflich und oft besser lösen, weil er nicht durch künstliche Regeln irregeleitet ist.«
Und schließlich ermöglicht das demokratische System die laufende Zufuhr von Vor-Ort-Wissen. In der Politik geht es letzten Endes über den Einfluss des Regierens auf das Alltagsleben der Bürger. Da mutet die Vorstellung kurios an, zur vernünftigen politischen Führung eines Landes bedürfe es einer weitestmöglichen Distanz der Politiker zum Alltagsleben der Bürger. So wie ein Markt jenen unablässigen Zustrom von Vor-Ort-Informationen braucht, die mit den Preisen gegeben sind, ist eine funktionierende Demokratie angewiesen auf den unentwegten Informationsfluss aus den
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