Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
Wählerstimmen. Es ist eine Information, die Eliten und Experten nicht erreicht, weil sie nicht Teil der Welt ist, in der sie leben. Richard Posner hat es so ausgedrückt: »Die Experten bilden in der Gesellschaft eine Klasse für sich – ihre Werte und ihre Perspektiven unterscheiden sich systematisch von denen gewöhnlicher Menschen. Ohne annehmen zu wollen, dass der Mann auf der Straße über tiefe Einsichten verfügt, die dem Experten versagt sind, oder dass er gegen Demagogie immun sei, dürfen wir es doch als beruhigend empfinden, dass die politische Macht von Experten und Nicht-Experten geteilt wird, statt ein Monopol von Ersteren zu sein.«
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Die Präambel der amerikanischen Verfassung erklärt es als ihr Ziel, »Gerechtigkeit zu schaffen« und »das allgemeine Wohl zu fördern«. Im Federalist 51 hält James Madison ausdrücklich fest, dass eine gute Regierung zwei Voraussetzungen zu erfüllen hat: »Erstens, Treue gegenüber dem Zweck der Regierung, als da ist das Glück des Volkes; zweitens ein Wissen um die Mittel, durch welche dieser Zweck erzielt werden kann.« Seine Furcht vor »Parteiungen« indes basierte auf der Vorstellung, dass sie es der Regierung erschweren, nach dem »Gemeinwohl« zu streben. Diese Furcht lebt fort in der vertrauten Kritik an der Macht von Interessengruppen und Lobbys, die die Bevorzugung von Sonderinteressen gegenüber den Interessen der breiteren Öffentlichkeit begünstigt. Und die (oftmals heuchlerischen) Klagen von Politikern über die Übel von Parteilichkeit in Washington finden nur deshalb Anklang bei den Wählern, weil die Bevölkerung spürt, dass Parteipolitik dem Wohl des ganzen Landes im Wege steht. Wie wir bereits in der Erörterung von eigennützigen Wählern gesehen haben, ist ein Politiker, der sich nicht irgendwie als Diener am Gemeinwohl darstellt, eine Rarität. Trotz unseres Wissens um die Realität in Washington, die durch politische Sonderinteressen und -begünstigungen bestimmt wird, bleiben wir der Vorstellung verhaftet, dass die Regierung in der Lage sein müsste, eine auf spezielle, lokale Interessen beschränkte Kirchturmpolitik zu überwinden.
Nur fehlt uns leider ein Maßstab, nach dem wir eine politische Entscheidung als »richtig« oder »falsch« beurteilen könnten, in scharfem Gegensatz zu den Märkten, wo wir (eines Tages in der Zukunft) zu evaluieren vermögen, ob eine Aktie den echten gegenwärtigen Wert des Unternehmens reflektiert oder ob der Preis einer Terminoption auf dem Iowa Electronic Market (IEM) den Ausgang von bevorstehenden Wahlen korrekt vorhersagte. Es steht auch, wie ich behaupten möchte, im Gegensatz zur Situation von Unternehmen, wo eine einfache und schlüssige Definition dessen existiert, was im Firmeninteresse liegt – nämlich mit legalen Mitteln den zinsabschlägigen Wert ihres künftigen Cashflows zu mehren. Das soll nun keineswegs heißen, dass jeder in dem Unternehmen Tätige sich ums Firmeninteresse scheren wird; oft handeln da Personen – wie etwa Vorstandsvorsitzende mit dem Segen von über die Maßen wohlwollenden Aufsichtsräten, die ihnen hunderte Millionen Dollar zahlen – im krassen Widerspruch zu den Interessen des Unternehmens. Der Witz ist hier jedoch der, dass wir über einen Maßstab verfügen – auch wenn es, zugegeben, kein sehr hoher oder moralisch bewundernswerter Maßstab ist -, der es uns annäherungsweise gestattet zu erkennen, ob eine bestimmte Strategie gut oder schlecht, ein Erfolg oder ein Irrtum war.
Die Demokratie betreffend ist solch ein Maßstab sehr viel schwieriger zu fixieren, nicht weil die Menschen egoistisch sind oder dem öffentlichen Interesse zuwiderhandeln – das trifft ja auch auf Unternehmen und sogar in einem Markt zu, wo viele Firmenbosse es vorzögen, wenn die Aktien nie das Niveau ihres wahren Wertes erreichten -, sondern weil, um mit dem Wirtschaftstheoretiker Joseph Schumpeter zu sprechen, »das Gemeinwohl für verschiedene Personen und Gruppen jeweils nur etwas Anderes bedeuten kann«. Es ist also durchaus möglich, dass zwei Politiker behaupten – und auch glauben -, im öffentlichen Interesse zu handeln, und dann total andersartige Kurse einschlagen. Wir mögen mit dem einen übereinstimmen und den anderen kritisieren. Wir sind jedoch offenkundig außerstande zu beweisen, dass einer von beiden gegen das Gemeinwohl gehandelt hat.
Es handelt sich hier um ein Problem von großer Bedeutung. Denn wenn wir in einem objektiven Sinn gewisse politische Kurse als
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