Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
einen Widerspruch zum Gemeinwohl darzulegen vermöchten, würde das Vertrauen der Demokratie auf kollektive Weisheit – reflektiert durch Wählerstimmen – eine exzellente Basis für ein gutes Entscheidungsfindungssystem ermöglichen, und stiegen die Aussichten, dass in einer Demokratie gute politische Strategien angenommen werden. Da wäre selbst das Faktum, dass die meisten Wähler nicht sonderlich gut informiert oder gebildet sind, nicht unbedingt ein Problem. Denn wir haben ja im Verlauf dieses Buches immer wieder gesehen, wie selbst Gruppen, die ein wahres Mischmasch von unterschiedlichsten Fähigkeiten sowie Graden von Engagement und Informiertheit darstellen, herausragende kollektive Entscheidungen getroffen haben, und es besteht kein Grund anzunehmen, dass Gruppen unter den meisten Umständen weise sind und sich in der politischen Arena auf einmal als täppisch erweisen sollten.
Wenn jedoch keine objektive Antwort auf ein Problem möglich ist, besteht allerdings leider kein Grund zu der Annahme, dass die Menge in der gleichen Weise klug und intelligent sein wird, wie es Francis Galtons Messebesucher, die Kunden von Robert Walker und die Webseiten-Wähler bei Google waren beziehungsweise sind. Die Wahl von Kandidaten und die politische Entscheidung in einer Demokratie stellen eben keine Kognitionsprobleme dar, sodass wir auch nicht erwarten dürfen, dass sie der Weisheit der Menge zugänglich sind. Andererseits besteht wiederum kein Anlass zu vermuten, dass ein anderes System – eine Diktatur, ein aristokratisches Regime oder eine Herrschaft der Eliten – eine bessere Politik treiben könnte, und die solchen Systemen immanenten Risiken (vor allem das Risiko der Ausübung von Macht ohne Kontrollen, die keine Rechenschaft schuldig ist) sind wesentlich größer als in einer Demokratie.
Wir könnten es nun einfach dabei belassen und froh sein, ein System zu haben, welches, um Churchills Gedanken aufzugreifen, das geringste Übel ist, statt eines, das einfach schlecht ist. Hier ist allerdings noch eine Bemerkung zu ergänzen. Ich habe zu Beginn des Buches darauf hingewiesen, dass Gruppen sich drei Arten von Problemen gegenübersehen – Kognitions-, Koordinations- und Kooperationsaufgaben – und dass bei ihrer Lösung eine kollektive Intelligenz, wie sie sich unter verschiedenen Umständen in unterschiedlichster Form manifestieren kann, hilfreich zu sein vermag. Die kollektiven Lösungen von Koordinations- und Kooperationsaufgaben differieren von Antworten auf Kognitionsprobleme. Sie sind unklarer und weniger definitiv – man erinnere sich an Brian Arthurs Lösung des El-Farol-Problems oder daran, wie die meisten Teilnehmer an Ultimatum- und Gemeingutspielen sehr unzulänglich definierte und dennoch echte Normen von Fairness beziehungsweise Gerechtigkeit und wechselseitiger Verantwortung durchsetzten. Solche Lösungen ergeben sich eher langsam, mit der Zeit – hier sei daran erinnert, wie Handelssysteme, in denen zunächst nur Familien- oder Clan-Angehörigen vertraut wurde, sich weiterentwickelten, bis sie eine ganze Welt umfassten, in der wildfremde Menschen glücklich und zufrieden miteinander Handel treiben. Und solche Systeme sind oft verwundbar und lassen sich zum Beispiel von Steuerhinterziehern und Trittbrettfahrern missbrauchen und ausbeuten.
Trotz solcher Einschränkungen stellen die Antworten auf Kooperations- und Koordinationsaufgaben echte Lösungen in dem Sinne dar, dass sie alles in allem funktionieren. Sie werden nicht von oben diktiert, sondern kommen von unten, aus der Menge. Und es handelt sich, grosso modo , um bessere Lösungen, als irgendeine Gruppe platonischer Wächter sie erfinden könnte. In dieser Richtung ließe sich auch die Demokratie deuten. Sie ist kein Instrument zur Lösung von Kognitionsproblemen, kein Mechanismus, um zu erkennen, was im öffentlichen Interesse ist. Sie ist jedoch ein System, um sich mit den fundamentalsten Problemen von Koordinierung und Kooperation zu befassen (wenngleich sie nicht ein für alle Mal gelöst werden können): Wie finden wir zu einem Zusammenleben? Wie lässt ein Zusammenleben sich wechselseitig positiv gestalten? Die Demokratie hilft den Menschen auf der Suche nach einer Antwort, weil die demokratische Erfahrung lehrt, dass wir nicht all das haben können, was wir haben wollen. Wir erfahren, wie unsere Kontrahenten obsiegen und erreichen, was wir für uns erhofften, und wir lernen es akzeptieren, weil wir begreifen, dass sie die Dinge
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