Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
erscheinen. Und – Google zum Trotz -, es gibt keine Garantie, dass am Ende unbedingt die beste Technologie triumphiert (weil die Masse sich nie über Nacht, sondern über einen gewissen Zeitraum entscheidet). Warum aber ist das so?
Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage sollte man sich einen Bienenstaat anschauen. Bienen sind bemerkenswert effizient in der Nahrungssuche. Laut Thomas Seeley, dem Verfasser des Werkes The Wisdom of the Hive [»Die Weisheit des Bienenstocks«] vermag ein Bienenstaat bis zu sechs Kilometer und mehr vom Stock entfernt auszuschwärmen, und er hat eine mehr als fünfzigprozentige Chance, ein Blumenfeld im Umkreis von zwei Kilometern zu finden. Und wie machen die Bienen das? Sie können ja nicht, wie Menschen, herumsitzen und diskutieren, in welche Richtung man sich auf Nahrungssuche begeben sollte. Nein, die Bienen schicken Kundschafterinnen aus, und wenn eine dieser Späherinnen eine offenbar ergiebige Nektarquelle entdeckt hat, fliegt sie zurück und führt einen Tanz auf, bei dem sie mit dem Schwanz wippt – einen Locktanz, dessen Intensität irgendwie durch die Qualität des Nektarvorrats am Entdeckungsort bestimmt wird. Dieser Locktanz erregt die Aufmerksamkeit anderer nahrungsuchender Bienen, die der Tanzenden folgen; Kundschafterinnen, die nicht so gute Nektarstellen entdeckt haben, finden weniger Gefolgschaft und geben ihre Fundstellen manchmal sogar gänzlich auf. Infolgedessen verteilen sich die nahrungsuchenden Bienen schließlich auf nahezu perfekte Weise über verschiedene Nektarquellen, das heißt, sie beschaffen eine im Verhältnis zur aufgewendeten Zeit und Energie größtmögliche Nahrungsmenge. Die Bienenkolonie hat ihr Nahrungsproblem somit kollektiv hervorragend gelöst.
Relevant ist hier die Methode, mit der die Bienenkolonie zu einer solch kollektiven, intelligenten Lösung kommt: nicht durch rationales Abwägen aller Alternativen, um daraufhin über ein ideales Suchmuster zu entscheiden – das wäre ja auch unmöglich, weil die Kolonie keine Ahnung haben kann, was an möglichen Alternativen existiert, wo sich also die verschiedenen Blumenfelder befinden. Die Kolonie schickt darum Kundschafterbienen in viele Richtungen aus und vertraut darauf, dass mindestens eine das beste Feld entdeckt, heimkehrt und einen guten Tanz aufführt, mit dem sie die anderen zur Nahrungsquelle lockt.
Dabei geht es – und das zu begreifen ist wichtig – um eine andere Art von Problemlösung, als wir sie bisher erörtert haben. Im Fall des Experiments mit dem Ochsengewicht, der Lokalisierung des U-Bootes Scorpion , der Wettmärkte oder des IEM bestand die Aufgabe der Gruppe darin, bereits vorgegebene, fixierte Wahlmöglichkeiten zu beurteilen beziehungsweise ein klar definiertes Problem zu bewältigen. In jenen Fällen konnten die Mitglieder der Gruppe unterschiedliche Teilinformationen zur Lösung des Problems beitragen; der Rahmen möglicher Lösungen aber war gewissermaßen vorher abgesteckt (Bundeskanzler würde entweder Schröder oder Merkel werden; das Finale der Champions League würde entweder Bayern München oder Real Madrid gewinnen.) Bei Problemen wie der Suche nach den an Nektar reichsten Blumenfeldern ist die Sache komplizierter. Es kommt zu einem Zwei-Phasen-Prozess: Die Alternativen müssen zunächst einmal überhaupt aufgespürt werden. Erst danach steht die Entscheidung für eine von ihnen an.
In der ersten Phase des Prozesses ist die Zahl der möglichen Lösungen so groß, dass es am gescheitesten ist, so viele Kundschafter wie möglich auszusenden. In diesem Sinne könnte man sich auch Ransom E. Olds, Henry Ford und die unzähligen Möchtegern-Autobauer, die es versuchten und scheiterten, als Kundschafter vorstellen. Sie entdeckten (in diesem Fall durch Erfindungen) ihre Nektarquellen – das Auto mit Verbrennungsmotor, die Serienproduktion, das Fließband; danach forderten sie die Masse auf, ihr Urteil abzugeben. Die Werbestrategien Ransom E. Olds’ ließen sich sogar als eine Art Locktanz auslegen.
Ein Schlüsselelement solcher Vorgehensweisen ist ein System, das spekulative Ideen fördert und finanziert, selbst wenn sie nur geringe Erfolgschancen haben. Noch wichtiger aber ist Diversität – Diversität nicht in einem soziologischen Sinn, sondern bezogen auf Konzepte und Erkennen. Es bedarf einer Diversität an ideenreichen Unternehmern, damit am Ende viele grundverschiedene Konzepte statt bloß leichte Variationen des gleichen Konzepts entwickelt
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